Wort zum Tage
Der Nil am Himmel
09.11.2016 05:23

Wer im Orient gelebt hat, weiß um die Bedeutung des Wassers. Die Sonne kann wie ein Glutofen über Stadt und Land liegen. Und mit dem Einsetzen des Chamsin, des heißen Wüstenwindes, ist es, als habe die Dürre leibhaftig Einzug gehalten.  Wasser bedeutet Leben. Seit frühester Zeit hat man darum gewusst. In einem Hymnus auf das Sonnenlicht aus dem Jahr 1360 v.Chr. dankt der ägyptische Pharao Echnaton seinem Gott dafür, dass er mit besonderer Weisheit für das Leben auf den fernen Bergländern von Syrien und Palästina gesorgt hat. Diese göttliche Tat – es ist die Gabe des Regens – wird von dem Land her besungen, das ausschließlich durch den Nil bewässert wird:

 

Du hast einen Nil an den Himmel gesetzt,

dass er herabsteige zu ihnen,

er schlägt Wellen auf den Bergen, wie der Ozean,

ihre Äcker sind trunken in ihren Ortschaften. (1)

 

Warum aber hat Gott Israel ein Land gegeben, das nicht durch einen großen Strom wie den Nil oder Euphrat bewässert wird, sondern vom Regen, der vom Himmel kommt (5.Mose 11,11)? Darüber haben die Weisen und Schriftgelehrten im alten Israel intensiv nachgedacht und Gründe für die Anordnung Gottes herausgefunden:

 

Damit das Hohe ebenso trinke wie das Niedrige, haben sie gesagt. Gemeint sind Berge und Täler oder auch hohe und niedrige Pflanzen, von der Zeder bis zum Ysop. Die Natur als Bild und Spiegel des Menschen macht unüberhörbar deutlich: Jeder Mensch, unabhängig von seiner Stellung in der Gesellschaft, hat ein Recht auf Wasser und das heißt –  ein Recht auf Leben.

 

Der entscheidende Grund aber, warum Gott in seiner Weisheit „den Nil an den Himmel gesetzt hat“, ist nach biblischer Auffassung: Damit alle Menschen ihre Augen nach oben wenden und der Mensch feststellen kann, dass er Grund hat, dem Himmel zu danken. (2) Der Geber der Fruchtbarkeit soll uns stets vor Augen sein. Im Sinnbild des Regens, des von oben strömenden Wassers, wird Gott selbst anschaulich erfahren. Es ist derselbe Regen, aber er zeigt sich in bunter Vielfalt in den Dingen der Natur und in der Seele des Menschen. Der Regen wird zum Gleichnis für Gott: Wie nichts auf der Erde aufblüht ohne Regen, so nichts im Menschen ohne Gott. Sein Geist, sein Atem hält uns am Leben. Und so heißt es im Munde des Psalmsängers:

 

Aller Augen warten auf dich, Gott,

dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit.

Tust du deine Hand auf,

so werden sie mit Gutem gesättigt. (Psalm 104,27f)

 

 

(1) Othmar Keel / Max Küchler / Christoph Uehlinger, Orte und Landschaften der Bibel Bd.1, Benziger-V+R 1984, S. 45

(2) GenR 13,9 zu Gen.2,6; in: Bibliotheca Rabbinica Bd.1, Georg Olms Hildesheim 1967, S. 59