Ungeliebt
Die Gesichter in der U-Bahn und die Geschichten dahinter
06.09.2024 06:20

Die Gesichter in der U-Bahn und die Geschichten dahinter

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Es gibt zwei Arten von U-Bahn-Wagen in Berlin: das Modell "Zugabteil" und das Modell "Hühnerstange". Beim Modell "Zugabteil" sitzt man sich maximal zu viert gegenüber, beim Modell "Hühnerstange" in zwei langen Reihen. Der Vorteil der Hühnerstange: Man kann sich viel mehr Leute in Ruhe angucken. Und an jeder Station wird neu gemischt.

Ich habe auch nach einigen Jahren Großstadt noch nicht aufgehört, über die Vielfalt zu staunen, die mir da begegnet. Manchmal würde ich zu gerne die Geschichten hinter den U-Bahn-typisch verschlossenen Gesichtern kennen. Oder einfach mal ein Gespräch anfangen. Aber das macht man natürlich nicht, wenn man sich nicht als Provinzkind outen will. Also gucke ich so ausführlich und trotzdem so unauffällig wie möglich. Das geht am besten, wenn man ein bisschen nach unten schaut.

Kleiner Schreck
"Love the unloved" lese ich auf einem Knöchel oberhalb der Sneakers, "Liebe die Ungeliebten". Das Tattoo gehört zu einer jungen Frau. Und sofort bekomme ich einen kleinen Schreck. Ist das eine Aufforderung? Fühlt sie sich etwa ungeliebt und soll oder kann ich etwas daran ändern? Sie sieht eigentlich nicht so aus, als würde sie gar niemand lieben. Leider kann ich sie wegen der U-Bahn-Anonymität nicht fragen, und Kopfhörer hat sie auch drin.

Liebe die Ungeliebten. Was für ein Satz. Da man in der Bahn auch gut googlen kann, finde ich heraus: Das ist ein Zitat aus einem Gedicht. Lasst uns Kinder großziehen, die die Ungeliebten lieben, den Löwenzahn, die Regenwürmer und die Spinnen. So beginnt es. Und endet mit einer ungewöhnlichen Schlussfolgerung: Lehre sie, die Ungeliebten zu lieben, damit sie sich einmal daran erinnern und für die sprechen, die keine Stimme haben.

Wenn ich mir jemals ein Tattoo stechen lassen würde
Und da sind wir auch schon an der nächsten Haltestelle. Die U-Bahn-Tür geht auf, und herein kommt einer, der obdachlos ist und nach Kleingeld fragt, und noch eine ältere Frau, der man ansieht, dass ihre Rente gerade so reicht und manchmal auch nicht.

Love the unloved. Liebe die Ungeliebten. Eigentlich ist die U-Bahn der perfekte Ort, um sich das abzugewöhnen, weil man nach einer Zeit einfach stumpf wird für alle Gesichter und die Geschichten dahinter. Oder sie ist der perfekte Ort, um hinzugucken und sich daran zu erinnern.

Als die junge Frau aufsteht, rutscht ihre Hose über das Tattoo am Knöchel. Auf ihrem T-Shirt ist ein Zitat aus der Bibel. Sie wird wohl Christin sein. Und ich bin es auch. Wenn ich mir jemals ein Tattoo stechen lassen würde, dann das: Love the unloved.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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