Die Welt ist ein Wunder und alles darin ein Gedicht wert, fand Matthias Claudius. Das fanden viele schon seinerzeit naiv. Aber seine Gedichte halten seit mehr als 200 Jahren und begleiten ein Leben lang.
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"Er schenkt uns so viel Freude, er macht uns frisch und rot / er gibt den Kühen Weide und unsern Kindern Brot." Das Lied, in dem diese Zeile vorkommt, singe ich schon mein ganzes Leben. Als Kind, beim Erntedankfest auf dem Dorf, in der Kirche, die mit Früchten und Blumen geschmückt ist, da gehörte "Wir pflügen und wir streuen" immer dazu. "Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn", sang ich, so laut ich konnte mit allen anderen um mich herum. Wir waren alle froh, beim Refrain angekommen zu sein. Denn die Melodie der Strophen führte uns gemeinsam in eine Höhe, die nicht alle Stimmen erreichten.
Heute glaube ich: Es war nicht nur die Melodie, die manche Stimmen versagen ließ. Es war ein tiefes Angerührt-Sein, das Staunen über die guten Gaben Gottes und das Wissen darum, dass sie unverfügbar sind: "Es geht durch unsere Hände / kommt aber her von Gott", sangen alle. Und sahen dabei auf ihre eigenen Hände, die jetzt ein Gesangbuch hielten und keine Kühe oder Mistforken oder Milchkannen.
In Norddeutschland spricht man allgemein nicht übermäßig viel von seinem Angerührt-Sein, von Staunen und von Unverfügbarkeit. Aber ausgerechnet aus Norddeutschland kommt der Dichter, dem wir dieses Lied verdanken. Heute vor 210 Jahren ist Matthias Claudius gestorben. Auch in seinem wohl bekanntesten Lied: "Der Mond ist aufgegangen" ist das alles zu finden: Angerührt-Sein, Staunen, Unverfügbarkeit.
Ein Dichter der Empfindsamkeit, ordnet ihn die Literaturwissenschaft ein. Ein Dichter, der sich zu seiner Zeit duckte vor dem Sturmwind der Aufklärung. Dieser Sturmwind, alles rational erklären zu wollen, fegte auch durch die Theologie.
Aber Matthias Claudius hörte einfach nicht auf, die Welt als ein Wunder Gottes zu betrachten. In seinen Augen wird alles wert, darüber zu reimen: "Victoria, Victoria, der kleine weiße Zahn ist da!", dichtet er über den ersten Zahn seines Kindes. Auch den Pellkartoffeln widmet er Verse: "Schön rötlich die Kartoffeln sind und weiß wie Alabaster." In der Familie Claudius, wo das Geld immer knapp war, kamen sie sicher häufig auf den Tisch. Und bleiben trotzdem Geschenk und gute Gabe Gottes.
Zeitgemäß war das alles schon zu Matthias Claudius‘ Zeit nicht. Diese Frömmigkeit kann man leicht für naiv halten. Mich begleiten seine Lieder und Gedichte schon durch mein ganzes Leben. Sie haben auch meine eigenen aufklärerischen Epochen mühelos überstanden. Matthias Claudius schenkt mir mit seinem Worten so viel Freude, Dankbarkeit und Demut. "Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn / drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm dankt / und hofft auf ihn", singe ich. So laut, wie ich kann.
Es gilt das gesprochene Wort.