Spurensuche
Ein Gedicht in der Straßenbahn
24.12.2016 09:00
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Zur Seligkeit erschaffen

„Zur Seligkeit erschaffen, dem Bilde Gottes gleich, /  betrat der Erden König, der Mensch, sein neues Reich, / mit Tugend ausgerüstet, vollkommen, ohne Mängel, / an Würd‘ ein Herr der Schöpfung, an Heiligkeit ein Engel …“ Ich traue meinen Augen nicht: steht das wirklich an der Decke des Straßenbahnwagens? In meiner Stadt hat der Verkehrsverbund die Angewohnheit, die Waggons der Straßenbahnen mit Gedichten zu versehen. Bei diesem Spruch frage ich mich jedoch, was die Verantwortlichen dazu bewogen haben könnte, ihn auszuwählen.  Ich vermute, dass ein gewisser Bevölkerungsdurchschnitt die Straßenbahn benutzt, also gute Menschen, schlechte Menschen und alles, was es dazwischen gibt. Eines jedoch scheint mir sicher zu sein: Ein so vollkommener Mensch, wie der Dichter Johann Jakob Dusch ihn darstellt, der diese Worte schrieb, hat die Straßenbahn noch nicht benutzt.

 

Niemand ist perfekt

Hat das Verkehrsunternehmen das Hohelied auf den Menschen abgedruckt, um uns weniger vollkommene Fahrgäste daran zu erinnern, dass wir uns wenigstens in der Straßenbahn aufzuführen haben wie einigermaßen vollkommene Menschen? Geduldig, ruhig, und ja keinen Abfall hinterlassend? Und selbst wenn dieser Versuch erfolgreich wäre, würde das an der moralischen Qualität der meisten Menschen außerhalb der Straßenbahn etwas ändern?  Wohl kaum. Der Mensch ist weder hier noch dort vollkommen; der Autor des Spruches hat das sicherlich gewusst. Er wollte mit seiner Schilderung wohl ein Idealbild zeichnen: So sollte der Mensch sein, so ist der Mensch geplant. Darin ist er übrigens einig mit der Bibel, die zumindest das erste Menschenpaar als vollkommene Abbilder des Göttlichen zeichnet. Aber die Bibel berichtet dann auch: Hinter diesem Idealbild fällt der Mensch weit zurück. Nicht nur in der Straßenbahn offenbart sich, dass der Mensch gern dem Nächsten auf die Füße tritt, gern egoistische Ziele verfolgt, gern für ein paar Euro mehr in der Tasche Dinge tut, die er seinen Kindern nicht erlauben würde. Tatsächlich aber raubt uns das die Seligkeit, zu der wir bestimmt sein sollten, den inneren Frieden. Und das geht allen Menschen gleich.

 

Vollkommenheit zeigt sich in der Liebe

Allerdings, wenn wir heute mit dem Heiligen Abend beginnen, das Weihnachtsfest zu feiern, dann geht es dabei um die Geburt eines Menschen, der dennoch ein vollkommener Mensch war, soweit dies unter den Bedingungen des Menschseins möglich ist. Von ihm heißt es im Neuen Testament, dass er ohne Sünde gewesen sei. Das heißt, dass er genau so war, wie ein Mensch sein sollte. Er entsprach dem Bild des Idealmenschen, das Dusch schilderte und das an der Decke des Straßenbahnwagens klebt: „…er war dem Bilde Gottes gleich“. Zwar geriet er in die Versuchung, seinem Lebenskonzept untreu zu werden, wie wir alle, und er musste sich in einer Umwelt zurechtfinden, die genauso durchwachsen von Gut und Böse war wie unsere heutige. Aber er bewahrte sich seine Heiligkeit und Integrität bis zum letzten Augenblick. Wir feiern die Geburt von Jesus Christus. Das Überraschende aber an Jesus Christus bestand nicht allein in seiner menschlichen Vollkommenheit, sondern vor allem darin, dass diese Vollkommenheit sich als Liebe zeigte. Sie ließ sich nicht begrenzen auf trautes Heim, Glück allein oder einen Geschenkeberg zu einem Familienfest, sondern Jesus suchte die unvollkommenen Menschen um sich herum. Von seinem Glanz fiel das Licht Gottes auf viele Menschen, die an dem Dunkel ihres Charakters oder ihrer Umstände ihre Seligkeit verloren hatten. So erwies sich Jesus als Bote, ja, gar als Sohn Gottes, der uns damals wie heute zuruft: Zur Seligkeit sind wir geschaffen.  Martin Luther sagt in seinem Lied „Vom Himmel hoch“, das heute an vielen Orten angestimmt wird, von Jesus Christus: „Er bringt euch alle Seligkeit, die Gott, der Vater hat bereit“. Fröhliche Weihnachten!