Ich hätte ihr gerne zum Geburtstag gratuliert. Heute wäre sie 88 Jahre alt geworden. Anneliese Marie Frank. Am 12. Juni 1929 in Frankfurt geboren. Im Februar oder März 1945 – ganz genau weiß man es nicht – starb sie im Konzentrationslager Bergen Belsen. Ein jüdisches Mädchen. Anne Frank.
Zu ihrem dreizehnten Geburtstag schenkte Annes Vater ihr eine rot-weiß karierte Kladde. Ein schön eingebundenes Büchlein, an der Vorderseite ein zierliches Schloss. Anne hatte es ihrem Vater ein paar Tage zuvor in einem Schaufenster gezeigt. Das wünschte sie sich. Und nun gehörte es ihr. Am selben Tag noch begann das Geburtstagskind mit dem Tagebuch-Schreiben. Das Tagebuch der Anne Frank.
Sie schrieb, wie es für sie war – das Leben in Amsterdam. Eigentlich kam sie ja aus Frankfurt. Aber die Eltern waren mit den beiden Töchtern vor den Nazis in die neutralen Niederlande geflüchtet. Über die Schule schrieb sie. Über die Nachbarschaft.
Aber schon bald wurden die Themen ernster: Nachdem die Deutschen die Niederlande besetzt hatten, gab es in Amsterdam kein sicheres Exil mehr für Juden. Ihrem Tagebuch vertraute Anne an, wie es gewesen ist: das "Judenstern-tragen-müssen"; wie entsetzt sie darüber war, dass auch in den Niederlanden die Stimmung gegenüber Juden feindseliger wurde.
Einen Monat nach ihrem dreizehnten Geburtstag musste die Familie Frank untertauchen. Zum Firmengebäude, in dem Annes Vater arbeitete, gehörte ein Hinterhaus. Dort fanden die Franks Unterschlupf. Gemeinsam mit einem Bekannten und einer weiteren jüdischen Familie. Insgesamt acht Personen, die sich versteckt halten mussten. Nicht auf die Strasse konnten. Keinen Lärm machen durften.
Etwas mehr als zwei Jahre ging das gut. Dann flog das Versteck auf. Die Familie wurde getrennt und deportiert. Annes Vater war bei Kriegsende der einzige Überlebende. Er war es auch, der dafür sorgte, dass das Tagebuch seiner Tochter veröffentlicht wurde. Heute ein Stück Weltliteratur.
"Woran glaubst du?" fragen in dieser Woche die Rundfunk- und Fernsehanstalten der ARD. Seit gestern läuft die ARD-Themenwoche. Ich glaube unter anderem an die heilende Kraft der Erinnerung.
Erinnerung ist ein biblischer Zentralbegriff. Die Bibel spricht ja manchmal sehr menschlich von Gott: Gott erinnert sich an die Leiden seines Volkes in Ägypten, und am Ende stehen Auszug aus der Sklaverei und neue Freiheit!
Oder: Nach Ostern erinnern sich die Jünger Jesu daran, dass ihr Herr ihnen das angedeutet hatte: Auferstehung! Und aus der lähmenden Karfreitagsdepression wird staunende Hoffnung auf eine neue Zukunft!
Ganz oft beschreibt die Bibel Erinnerung als Start zu etwas wunderbar Neuem.
Ich glaube daran, dass Erinnerung den Menschen niemals beschämen oder klein machen will. Auch die Erinnerung an den Holocaust nicht.
Ja, Erinnerung kann auch furchtbar weh tun. Aber nur, wer nicht verdrängt oder gar verfälscht, wird die Erfahrung machen: Aus der Erinnerung wächst die Kraft, Konsequenzen zu ziehen. Aus der Erinnerung entsteht der brennende Wunsch danach, sich alte Schuld nicht noch einmal aufzuladen. Und Erinnerung hilft dabei, das Leben zu gestalten. Altes hinter sich zu lassen und Neues zuversichtlich in Angriff zu nehmen.
An einem Gebäude am Platz vor der Klagemauer in Jerusalem steht in riesigen hebräischen Buchstaben die Aufforderung: "Erinnert Euch!" Und daneben symbolisieren sechs lodernde Flammen die sechs Millionen Juden, die den Nazis zum Opfer fielen.
Wer kann sich das vorstellen? Sechs Millionen!
Anne Frank ist nur eine von ihnen. Aber sie gibt dem Unaussprechlichen ein Gesicht.
Nur sechzehn Jahre als ist sie geworden. Gratulieren kann ich ihr nicht mehr. Aber an sie erinnern – das kann ich.