Heil und Heilung
Was Religion und Medizin miteinander zu tun haben
23.07.2017 08:35

Mark Geller:

Es gab immer innerhalb der Medizin Platz für religiöse Ideen.

 

Mark Geller ist Wissenschaftshistoriker an der Freien Universität Berlin. Er erforscht die Geschichte der Medizin, von ihren Anfängen im alten Babylon bis heute. Diagnostische Methoden und Heilverfahren haben sich grundlegend gewandelt in diesen 4000 Jahren, aber eine Konstante ist geblieben: die Medizin ist nie ganz von der Religion losgekommen, obwohl viele Ärzte genau das immer wieder angestrebt haben.

 

Mark Geller:

Religion spielt immer eine Rolle in der medizinischen Ethik.

 

Heil und Heilung: Nicht in allen Sprachen liegen diese beiden zentralen Begriffe von Religion und Medizin so nah beieinander wie im Deutschen. Dennoch kreisen diese beiden Disziplinen immer wieder um gemeinsame Fragen: Was macht ein gutes Leben aus? Gehört manchmal auch Leid zum guten Leben? Und wieweit darf der Mensch gehen, um Leid zu lindern?

 

Diese Fragen stellen sich besonders in der weit fortgeschrittenen High-Tech-Medizin, zum Beispiel in der Stammzellen-Forschung. Stammzellen kommen in menschlichen Embryonen vor, die bei der künstlichen Befruchtung im Reagenzglas entstehen. Weil am Ende nur ein Embryo in den Mutterleib eingepflanzt wird und die anderen sterben, wollen Wissenschaftler die Stammzellen dieser überzähligen Embryonen verwenden, um mit ihrer Hilfe Therapien zu entwickeln, etwa gegen Krebs oder Herzinfarkt.

 

Die meisten christlichen Theologen lehnen dies ab, weil sie Embryonen als beginnendes menschliches Leben betrachten, das man nicht zu Forschungszwecken benutzen dürfe. Stammzellenforschung ist deshalb in Deutschland nur eingeschränkt zugelassen. Ganz anders als in Israel, erzählt Mark Geller.

 

Mark Geller:

Die Frage ist: Wann fängt das Leben an? Im Judentum ist es bei der Geburt, nicht bei der Befruchtung. Und das ist ein riesiger Unterschied und das hat natürlich logische Konsequenzen in der medizinischen Ethik

 

Medizin-Forscher hierzulande fordern deshalb, dass Theologen und Gläubige nicht dem Fortschritt im Wege stehen und ihre ethischen Standards mit der wissenschaftlichen Entwicklung in Einklang bringen sollten.

 

Doch Christen sind, was dieses Thema angeht, gebrannte Kinder, erklärt die Theologin Sabine Schleiermacher. Sie forscht an der Charité zur Geschichte der Medizin. Vor hundert Jahren, erzählt sie, haben Christen in Deutschland schon einmal versucht, ihre theologische Lehre auf den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu bringen – und sich im Verlauf dieser Debatte tief in Schuld verstrickt.

 

Sabine Schleiermacher:

Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war die Rassenbiologie, Eugenik, Sozialdarwinismus. Und es gab etliche Theologen, die meinten, diese Inhalte in ihre Verkündigung bzw. in ihr religiöses Handeln miteinbeziehen zu wollen, weil sie sich modern verstanden und weil sie meinten, Einblicke damit zu erhalten durch die Naturwissenschaften in die Schöpfungsordnung.

 

Vor allem die Eugenik, die Erbgesundheitslehre, wie man damals im Deutschen sagte, stand im Mittelpunkt medizinischer Debatten, für die sich auch Theologen interessierten. Für die Theologen war unbestreitbar, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes sind. Aber die meisten glaubten, dass ein Gott, der die Menschen liebte, doch eigentlich nicht wollen könne, dass einige von ihnen krank oder behindert zur Welt kämen. Wenn dies aber doch geschehe, müsse die Ursache darin liegen, dass sich die Menschheit durch ihr Verhalten an der Schöpfung versündige.

 

Sabine Schleiermacher:

Diese Vorstellung wurde so interpretiert, dass der Mensch als Mensch sündig ist und – genetischer Defekt gleich Sünde – dass sich diese Sündhaftigkeit des Menschen von Generation zu Generation weiter fortpflanzt.

 

Wenn jetzt die Wissenschaft in der Lage sei, Erklärungen zu liefern, warum das geschehe, dann erlaube das tiefere Einsichten in Gottes Schöpfung. Und wenn dieselbe Wissenschaft auch noch helfen könne, das Entstehen von behindertem Leben zu verhindern, dann müsse das doch im Sinne Gottes sein.

 

So fand sich eine theologische Begründung für Eugenik, so Sabine Schleiermacher, die ethische Fragen zu beantworten schien.

 

Sabine Schleiermacher:

In wie weit hat der bekennende Christ im Glauben an Gott die Aufgabe, die neuen Forschungen der Vererbungswissenschaft in seinem allgemeinen Tun zu berücksichtigen? Deswegen hatte es schon 1906 einen Kurs im Rahmen der Inneren Mission gegeben, zum Thema Vererbung und Verantwortung. In diesen Fortbildungsveranstaltungen wurde genau darauf aufmerksam gemacht, dass man Schuld und Sünde überwinden könne, indem man die Regeln der Vererbung in sein Handeln integriert und das zur Leitkategorie macht, das war die Vorstellung, die diese Leute hatten.

 

Praktisch hieß das: Menschen, die Behinderungen weitervererben könnten, sollten sich nicht mehr fortpflanzen. Sie sollten nicht mehr heiraten dürfen oder sich sterilisieren lassen.

 

Eine theologische Begründung, solche Menschen sogar umzubringen, habe es nie gegeben, betont Sabine Schleiermacher. Doch genau das taten die Nationalsozialisten in den 30er und 40er Jahren. Kraft zum Widerstand oder wenigstens Widerspruch fand damals kaum ein Theologe, weil der Grundgedanke von höher- oder minderwertigem Leben längst Einzug auch in ihr Denken gehalten hatte.

 

Insofern sind Theologen mitschuldig geworden, auch wenn sie ursprünglich lautere Absichten hatten. Denn ein Ziel ihrer Debatten vor hundert Jahren war es, Theologie und Medizin wieder näher zusammen zu bringen.

 

Ursprünglich hatten beide Disziplinen eine Einheit gebildet, als im alten Babylon die Geschichte der Heilkunde begann, erzählt Mark Geller.

 

Mark Geller:

In der Antike gab es keine Kategorie „nicht-religiös“. Jeder war religiös. Atheismus existierte nicht.

 

Also waren und blieben auch jene Gelehrten gottesfürchtig, die knapp 2000 Jahre vor Christus zum ersten Mal Wissen über sogenannte Zauberpflanzen erwarben oder über Mineralien, die halfen, Krankheiten zu lindern oder gar zu kurieren. Warum das gelang, dafür hatte man noch keine rechte Erklärung. Verantwortlich für die richtige Mixtur war ein Heiler, den man nach heutigen Maßstäben eher als Apotheker denn als Arzt bezeichnen würde. Denn Diagnosen stellte der Heiler nicht. Das übernahm ein Magier, der unverzichtbar blieb auch bei der Verabreichung von Heilmitteln.

 

Mark Geller:

Man hatte Rezepte und man hatte gleichzeitig Magie, Beschwörungen, Rituale usw. Warum? Weil die Magie einen psychologischen Effekt hat auf den Patienten, auch sehr wichtig in der Medizin. Mit den magischen Texten hat man eine Gelegenheit, den Patienten zu überzeugen, dass hier etwas an der Hand ist, das wirklich helfen kann. Es hat, meiner Meinung nach, sehr gut funktioniert.

 

Doch ganz langsamen begannen Heilkundler gegen die Vormachtstellung der Magier zu rebellieren.

 

Paul Unschuld:

Das kann man durchaus als die größte kulturelle Revolution der Menschheitsgeschichte, die wir kennen, bezeichnen.

 

Sagt der Medizinhistoriker und Sinologe Paul Unschuld vom Horst-Görtz-Institut der Charité in Berlin.

 

Paul Unschuld:

Das untergrub die Macht der Priester und das Ganze ist der Übergang von einem kulturellen Bewusstsein von menschlicher Fremdbestimmung durch numinose Mächte, also einen Gott oder viele Götter oder Geister, Dämonen, Ahnen, hin zu dem Bewusstsein, der Mensch kann existenziell selbstbestimmt leben, wenn er die Naturgesetze kennt.

 

Diese Erkenntnis gewann die Menschheit, unabhängig voneinander in zwei völlig unterschiedlichen Kulturen: im antiken Griechenland und etwas später im alten China.

 

Paul Unschuld:

Dann kommen neue Sichtweisen, die sagen, vergesst das, ihr braucht nicht auf den Knien zu Altären zu rutschen oder den Ahnen oder Geistern zu opfern oder an Dämonen und Götter zu beten, das nützt alles nichts, ihr werdet krank auf Grund ganz bestimmter naturgesetzlicher Entwicklungen, die müsst ihr kennen und wenn man sich diesen Naturgesetzen gegenüber folgsam verhält, kann man gesund bleiben.

 

Es sollte noch 2000 Jahre dauern bis zur Aufklärung und dem damit verknüpften Versuch der westlichen Gesellschaften, sich von Gott loszusagen und Vernunft und Wissenschaft zur alleinigen Richtschnur zu machen. Aber die gesamte Entwicklung der Medizin lässt sich als Rebellion gegen eine Gottesherrschaft lesen, meint Paul Unschuld.

 

Und dennoch, fügt Mark Geller hinzu, hat die Religion die medizinische Entwicklung immer geprägt. Was wir heute als Schulmedizin kennen, wäre nicht denkbar, ohne den Einfluss des Christentums.

 

Mark Geller:

In den heidnischen Gesellschaften, wo man Medizin sieht, war Medizin eine Art Technologie, mit Rezepten usw. Aber in der in früh-christlichen Zeit sieht man ein anderes Muster, das ist Charisma. Ein charismatischer Heiler, ein Heiliger, das ist nicht typisch für die vor-christlichen Gesellschaften, vor-christliche Medizin. Das war eine bestimmte Funktion vom Christentum.

 

Vorbild war Jesus Christus, von dem die Bibel erzählt, er habe Lahmen die Hand aufgelegt und sie konnten laufen. Nicht von ungefähr bezeichnete der Volksmund Ärzte als Halb-Götter in Weiß, seit ihnen im 19. Jahrhundert scheinbar ähnliche Erfolge gelangen. Seit sie mit Hilfe der Chirurgie bis dahin undenkbare Therapie-Erfolge erzielten und mit zahllosen neuen Medikamenten bis dahin unheilbare Krankheiten kurierten.

 

Doch spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts begann das westliche Fortschrittsversprechen zu verblassen, weil auch die Schulmedizin längst nicht alle Rätsel lösen kann, konstatiert die Berliner Religionswissenschaftlerin Almut Renger.

 

Almut Renger:

Es ist zu beobachten, dass es zu einem Interesse an außer-christlichen Religionen gekommen ist und dass die Faszination an diesen auch das Interesse an Heilmethoden mit sich gebracht hat, die dann als Alternativen zur akademischen Medizin an Popularität gewonnen haben.

 

An allen renommierten medizinischen Lehrstühlen wird heute anerkannt, dass solche oft aus religiösen Traditionen erwachsene Heilmethoden durchaus Wirksamkeit besitzen.

 

Almut Renger:

So hat sich eine Situation ergeben bei uns, in der wir unterscheiden zwischen akademischer Medizin auf der einen Seite und alternativer oder komplementärer Medizin auf der anderen Seite. Unter komplementär-medizinische Methoden fallen u.a. Ayurveda, traditionelle chinesische Medizin, Yoga, heilkundliche Systeme würden wir sagen, die mit bei uns in die Medizin durchaus einbezogen werden.

 

Viele Menschen fasziniert an diesen Heilmethoden das Gefühl, der Patient werde hier in seiner Ganzheit gesehen und in seinem sozialen wie spirituellen Umfeld. Doch Almut Renger zweifelt, ob das immer ihrem Heil oder wenigstens einer Heilung dient und nicht einem modernen sozialen Zwang folgt: dem zur Selbstoptimierung.

 

Almut Renger:

Dieser Trend, dass der Mensch sich selbst optimiere, bringt mit sich die Neigung zu ganzheitlichen Systemen. Besser, schöner, schneller, gesünder, heiliger, fitter, liebevoller, was auch immer der oberste Wert eines Individuums ist, und da diese Systeme, die wir als ganzheitlich begreifen, da besonders viel anzubieten haben, wird gerne darauf zurückgegriffen. 

 

Wo es um Optimierung des Menschen geht, da ist die hundert Jahre alte Idee der Eugenik nicht mehr so weit weg, obwohl sich doch längst alle einig sind, wie unmenschlich und überholt sie ist. Doch ausgerechnet der medizinische Fortschritt hat sie quasi als Nebenwirkung wieder zurückgeholt, bemerkt Sabine Schleiermacher.

 

Die künstliche Befruchtung im Reagenzglas lässt ja nicht nur überzählige Embryonen entstehen, aus denen man Stammzellen für Forschungszwecke gewinnen kann. Sie ermöglicht auch die Präimplantationsdiagnostik: Bevor sie befruchtete Eizellen in die Gebärmutter einpflanzen, können Ärzte feststellen, ob daraus behinderte Kinder hervorgehen könnten.

 

Sabine Schleiermacher:

Es gibt einen eindeutigen Standpunkt von Seiten der EKD, die 2011/2012 eine Erklärung formuliert hat, in der sie Präimplantationsdiagnostik eindeutig ablehnt, aber es ist auch deutlich geworden, dass die Entscheidung der EKD nicht leicht gefallen ist.

 

Denn natürlich kann die Präimplantationsdiagnostik werdenden Eltern viel Leid und Trauer ersparen, wenn sie sich überfordert fühlen, ein behindertes Kind großzuziehen. Aber käme es nicht einer Wiederkehr der Eugenik nahe, wenn Ärzte oder Eltern entscheiden, ob ein behindertes Kind zur Welt kommen darf, fragt Sabine Schleiermacher.

 

Sabine Schleiermacher:

Eugenische Entscheidungen sind ins Reagenzglas verlegt worden, aber dennoch bleibt die eugenische Entscheidung. Und man muss sich sehr wohl überlegen, was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn die Prämisse zur Entstehung von Leben sich mit Eugenik verknüpft.

 

„Leben lässt sich vor Leid nicht schützen“, heißt es in der Erklärung der EKD zur Präimplantationsdiagnostik. Für viele Ärzte ist dieser Satz nahezu unerträglich. Ihr Berufsethos zielt darauf, Leiden soweit wie möglich zu vermeiden. So werden Medizin und Religion immer in einem Spannungsverhältnis vereint bleiben, wenn es darum geht zu definieren, was einem guten Leben dient.