Spurensuche
Am Ende des Lebens
30.09.2017 10:00

 

 

Schnee auf meinem Weg

Das Lied, das mein Herz dir sang,
klingt nicht mehr.
Verschlissen ist der Ton.
Das Lied klingt nicht mehr,
und ich soll singen?

Der Wein, den ich trinken muss,
leuchtet nicht mehr.
Mein Glas hat einen Sprung.
Der Wein leuchtet nicht mehr,
und ich soll trinken?

Die Saat, die mir gegeben ist,
keimt nicht mehr.
Und bald schneidet die Sense.
Die Saat keimt nicht mehr,
und ich soll reifen?

Du riefst mich?
O, lass mir noch Zeit!
Du riefst mich?
O, lass mich noch suchen!
Du riefst mich?
Ich komme. Ja, ich komme,
aber kalt liegt der Schnee auf meinem Weg.

Greta Schoon schrieb dieses Gedicht auf ostfriesisches Plattdeutsch; ich habe es ins Hochdeutsche übersetzt. Die Dichterin wurde 1909 geboren; das Gedicht erschien 1977; sie war schon hoch in den Sechzigern, als sie es schrieb, zusammen mit einer Handvoll anderer Gedichte, die ähnlich aussagekräftig sind wie dieses. Es gibt zwar auch frühere Texte Greta Schoons; aber diese Sprache, die in diesem Gedicht ertönt, hat sie erst im Rentenalter erarbeitet. Sie starb 1991 nach schwerer Krankheit.

„Lass mir noch Zeit!“

In ihrem Gedicht „Schnee auf meinem Weg“ wendet sie sich einem Du zu. Es bleibt offen, wer dieses Du ist. Ist es der Vater? Greta Schoon verlor ihn, als sie sechs Jahre alt war. Ihm gehörte ihre ganze Liebe; und als er 1915 im Ersten Weltkrieg starb, war dies ein schwerer Schlag für sie. Vor ihrem Auszug Brasilien konstatieren ihre Biographen eine enttäuschende menschliche Beziehung. Ist es der geliebte Mann, dem sie diese Lieder gesungen hat, die nun nicht mehr klingen, hat er ihr den Wein in das geborstene Glas eingeschenkt, der nun nicht mehr leuchten will, hat er ihr die Saat gegeben, die nicht mehr aufgehen will? Oder ist es das Alter, das ihr die geliebten Dinge schal und nutzlos werden lässt? Verlieren sie ihren Glanz angesichts des nahen Endes?

Vielleicht schildert sie eine Altersdepression. Die Stimme wird brüchig – niemand will die Lieder noch hören, die sie im Alter singen soll. Die Geschmacksnerven verlieren an Intensität, der Wein schmeckt nicht mehr. Und für die Saat, was immer auch gesät wurde, reicht die Zeit nicht mehr, dass sie aufgehen kann. Sie soll das Leben feiern; aber wie kann sie das, wenn das Ende ihr vor Augen steht? Es ist zu spät; der Glanz des Lebens ist vergangen.

In diesem Vergehen hört sie eine Stimme, die nach ihr ruft. Sie antwortet, indem sie sie mit dem Du anspricht. „Du riefst mich?“ fragt sie. Verschmelzen darin die Stimmen ihres Vaters, ihres Geliebten und ihres Alters zur Stimme des Todes? Der ist trotz allem unwillkommen. Trotz aller Depressivität sträubt sie sich gegen ihn: Lass mir noch Zeit! Aber der Ruf ist unerbittlich. Das ist die Größe und die Erbärmlichkeit des menschlichen Lebens, dass er nein sagen kann zum Tod, dass aber jedes Nein zum Tod doch mit dem Tode endet.

Ein trotziges Ja

Aber die Dichterin findet zum Schluss ein trotziges Ja hin zu dem Rufenden. Der Weg ist von kaltem Schnee bedeckt, aber sie ist bereit, ihn zu gehen. Vielleicht findet sie an seinem Ende zu neuen Liedern, zu neuem Wein und zu neuer Saat. Denn in dem Ruf des Todes schwingt fast unhörbar der Ruf Gottes mit. Nur die Tatsache, dass es ein Du ist, zu dem Greta Schoon spricht, und dass sie zweimal sagt: „Ich komme“ mit einem kräftigen Ja dazwischen, lässt darauf schließen. Denn der Tod ist keine Person, die man ansprechen könnte. Er ist das Ende jedes Personseins, vor ihm verstummt jeder Mund. Aber Gott hat sich in Jesus Christus als die Person ausgewiesen, die uns aus der Zeit in die Ewigkeit ruft und uns dort mit dem Glanz seiner Liebe anstrahlt. Der Weg dahin ist mühsam, in der Sprache der Dichterin von kaltem Schnee bedeckt. Sterben ist kein Spaß. Aber am Ende steht der, zu dem die Dichterin trotzig sagt: „Ja, ich komme!“