Das verpasste Jubiläum
Das Jahr 2020 geht zu Ende, und es sollte ein großes, bewegendes Jubiläumsjahr werden. Zumindest die Musikwelt hierzulande war auf ein glanzvolles Beethovenjahr eingestellt. Einer der bedeutendsten Komponisten der Musikgeschichte, Wegbereiter der Romantik, geboren im Dezember 1770, vor 250 Jahren. Nur wenige Namen könnten ein bedeutsameres Gedenkjahr hervorrufen. Aber Corona verpasst sogar den größten kulturellen Ereignissen einen Dämpfer.
Ludwig van Beethoven, der erstklassige Klaviervirtuose, der herausragende Komponist von kraftvollen, vielseitigen Werken mit kaum dagewesener Brillanz und Ausdruck war auch ein von Krankheiten geplagter Mann: „Der neidische Dämon hat meiner Gesundheit einen schlimmen Streich gespielt, nämlich mein Gehör ist … immer schwächer geworden ... nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort... Ich bringe mein Leben elend zu.“ Die Schwerhörigkeit griff Beethoven massiv an, bis hin zu Suizidgedanken; sie machte aus seinem Leben einen Widerspruch in sich. Denn wie konnte ein Mensch leben, der durch und durch mit der Musik verschmolzen war, wenn er doch gehörlos war?
Eine unfassbare Kraft
Erstaunlicherweise jedoch entstanden ausgerechnet in der Phase akuter Krankheit zahlreiche Werke, die bis heute große Popularität genießen. In dieser Phase schrieb er Klaviersonaten wie die Appassionata, die Waldsteinsonate, zahlreiche Klavierkonzerte und Sinfonien. Nicht nur die Fachwelt, sondern sogar ein Laie erkennt hier eine Machtübernahme des Patienten gegenüber seiner quälenden Krankheit. Beethoven schaffte Unvorstellbares und lieferte der Nachwelt das Zeugnis von einer unfassbaren Kraft, die im schaffenswilligen Menschen frei werden kann. Mit seiner Kunst gelang es ihm, zumindest zeitweise sein unermesslich großes Leiden zu bezwingen.
Doch seinen zwei Brüdern Kaspar Karl und Nikolaus Johann offenbarte er ein tiefer sitzendes seelisches Leid, in einem Brief. Von Mai bis Oktober 1802 ließ sich der damals 31-Jährige in Heiligenstadt bei Wien behandeln, wie es sein Arzt Johann Adam Schmidt empfohlen hatte. Dabei verfasste Beethoven am 6. Oktober den Brief an die Brüder, der als das „Heiligenstädter Testament“ in die Geschichte einging.
Ausbruch aus unseren Gefängnissen
Man hört in diesem Brief nicht mehr den eigenwilligen Komponisten, dessen Musik Heroisches, Furioses, manchmal Zügelloses zum Vorschein bringt. Man bekommt einen Einblick in ein trübes Innenleben des jungen, resignierten Beethoven. Das macht den Brief für mich bedeutend. In diesem Brief spricht nicht das große Genie, sondern ein gewöhnlicher Mensch, der einsam und abgeschlafft in einer tiefen Krise steckt.
Beethoven distanziert sich von dem Image, „feindselig, störisch oder misantropisch“ zu sein. Er betont, dass er sich durch seinen Gehörverlust absondern und einsam sein Leben zubringen musste. Und Beethoven wendet sich an seine Brüder mit dem Flehen, eine Versöhnung bei den Menschen zu erwirken, von denen er sich zurückgezogen hatte. „Drum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gerne unter euch mischte. Doppelt wehe tut mir mein Unglück ... Ihr meine Brüder Karl und (Johann), sobald ich tot bin, und Professor Schmidt (sein Arzt) lebt noch, so bittet ihn in meinem Namen, dass er meine Krankheit beschreibe, und dieses hier geschriebene Blatt füget Ihr dieser meiner Krankengeschichte bei, damit wenigstens soviel als möglich die Welt nach meinem Tode mit mir versöhnt werde ...“
Die Versöhnung ist in Beethoven nicht nur ein sozialethischer oder religiöser Begriff. Es geht ihm nicht um Friedenschließen oder Wiedergutmachung. Die Versöhnung ist eine tiefe Sehnsucht. Beethoven scheint sie für seine Seelenruhe zu benötigen, als würde nur durch die Versöhnung sein Leben einen Sinn erhalten.
Es ist traurig, dass Beethoven vermutlich nie die Möglichkeit erhielt, die ersehnte Versöhnung im erhofften Ausmaß zu erleben. Die Taubheit, dieses sein Gefängnis, verschärfte sich nur, bis er 1827 starb, mit 57 Jahren.
Ich finde es andererseits erbauend, zu erleben, wie wichtig es für Beethoven geworden ist, den Wert der Versöhnung zu suchen und zu erkennen. Es ist ein unbezahlbarer Dienst an unser Leben, aus den wie auch immer gearteten Gefängnissen auszubrechen, die uns von den Mitmenschen isolieren. Und wenn die Aussage, Weihnachten sei das Fest der Familie, eine gehaltvolle Bedeutung erhalten soll, dann sicher nur, wenn so ein Ausbruch gelingt. Das Fest der Familie kann ein Anlass werden, im Kerzenlicht oder während eines Winterspaziergangs ein versöhnendes Gespräch zu führen. Vielleicht sind diese Begegnungen in diesem Jahr mit seinen Auflagen auf Grund der Pandemie nicht persönlich. Aber die Gespräche sind trotzdem nötig. Dann entstehen die Augenblicke, die dem Fest und dem Treffen der Familie einen Mehrwert verleihen.