Vom Zehnkampf lernen
Gedanken zur Woche von Pfarrerin Heidrun Dörken
19.07.2024 06:35
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Sendung zum Nachlesen:

Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber doch Schaden nimmt an seiner Seele? (1) Die Frage des Jesus von Nazareth nehme ich mit in diese sommerlichen Sport-Wochen: Olympische Spiele nächsten Freitag in Paris, jetzt Tour de France, und gerade noch war Fußball-EM sowie Tennis in Wimbledon. Wer sich für Sport interessiert und Zeit dafür findet, kann jede Menge sehen und mitfiebern. Ich gehör‘ dazu. Für den olympischen Zehnkampf der Leichtathletik nehme ich Urlaub, damit ich von morgens bis abends dabei sein kann vor dem Fernseher. Natürlich freue ich mich an herausragenden Leistungen. Gleichzeitig glaube ich, was Jesus sagt: Gewinnen ist nichts, wenn die Seele Schaden nimmt.

Ich nehme wahr: Gerade Sportlern wird seelische Gesundheit wichtiger. Weil sie merken: Wo nur das Siegen zählt, bleiben Menschen auf der Strecke. Eine der bekanntesten Turnerinnen der Welt ist die US-Amerikanerin Simone Biles. Sie hatte bei den letzten olympischen Spielen einen Wettkampf abgesagt, weil sie psychische Probleme hatte. Sie wurde zum Vorbild für Menschen, die sich nicht trauen, Schwächen zuzugeben. Die sich schämen, nicht durchzuhalten. Ihre Botschaft ist: Nimm dich an, wenn du nicht mehr kannst. Halte inne. Versuche es später wieder. Oder sortier dich neu.

Inzwischen denken auch Sportverbände um. Müssen sie auch, endlich. Kinder wurden gedrillt und gedemütigt, werden es an manchen Orten immer noch. Nicht nur beim Turnen wurde jungen Sportlerinnen und Sportlern körperliche und seelische Gewalt angetan. Verantwortliche schauten weg. Nun will zum Beispiel der deutsche Turnsport die Selbstbestimmung der Athleten fördern, den Teamgedanken, den Spaß und das Gönnen-Können. Ein Fernsehbeitrag morgen im Ersten (2) dokumentiert, ob und wie das gelingt. Und was Menschen für "60 Sekunden Perfektion" an Disziplin üben. Opfer bringen. Mit Rückschlägen leben. Ohne das geht es im Leistungssport nicht. Aber es muss gehen ohne seelischen Schaden.  

Auch neben dem Sport: In Deutschland ist jeder Vierte von psychischen Erkrankungen betroffen (3). Die Fehltage bei der Arbeit deswegen sind deutlich gestiegen (4), Betroffene warten zu lange auf professionelle Hilfe (5). Immerhin ist es inzwischen weniger ein Tabu, bei einer seelischen Erkrankung Hilfe zu holen.

Ich will mich auch selbst erinnern an einen Kern des christlichen Glaubens: Jede und jeder ist viel mehr als das, was sie oder er leistet. Wenn Gott bedingungslos Ja zu mir sagt -  und zu meinen Nächsten -, dann kann ich das doch auch lernen. Aufs Herz hören. Auf Warnsignale achten. Hilfe suchen, bevor nichts mehr geht. Kein Mensch ist nur zum Funktionieren da. Gott gibt jedem Geschöpf unendlich größere Würde.

Ich liebe den Zehnkampf, weil er mir etwas davon zeigt. Ich erlebe Gänsehaut-Momente abseits der Siegerehrung. Ich sehe Respekt und Fairness, sogar Freundschaft unter den Wettkämpfern (6). Manche sagen: Der Zehnkampf ist das ganze Leben in zwei Tagen: Extrem unterschiedliche Herausforderungen. Für Stabhochsprung braucht man völlig anderes Können als für Kugelstoßen. Wie auch sonst im Leben, wo ein Mensch einfühlsam ein Baby tröstet und etwas später eine komplizierte Maschine programmiert.

Dazu Höhen und Tiefen. Wer am ersten Tag vorne ist, kann am zweiten hinten liegen. Überraschend Bestleistung bei einer Disziplin. Bei einer anderen gelingt nichts, der gefürchtete Salto Nullo. Eine Verletzung kann alles beenden. Ein anderer rückt vor.  

Bei den Olympischen Spielen in Paris wird der Zehnkampf spannend wie nie. Zehn bis zwölf Athleten sind so gut, dass sie Medaillen gewinnen können, auch deutsche Sportler. Nur drei werden sie in den Händen halten.

Als Zuschauerin will ich sie alle feiern, besonders bei Momenten, wo sich zwei in den Armen liegen und sich auch über die Leistung des anderen freuen. Das ist ein Weg zur seelischen Gesundheit: Wenn ich mit anderen mitfühle. Und mit mir selbst. Freude empfinde und auch zufrieden sein kann. Da bleibt die Seele heil - oder wird sogar gesund.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

  1.   Markusevangelium 8,36, Matthäusevangelium 16,26, Lukasevangelium 9,25
  2.   Turnen – 60 Sekunden Perfektion, ARD, 20.7., 18.15 Uhr, auch ARD Mediathek. Dazu FAZ 16.7.24, S. 13 Heike Hupertz: Ist die Zeit des Kinderquälens vorbei? Die Doku "60 Sekunden Perfektion" schaut hinter die Kulissen des Turnsports
  3.   https://www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html
  4.   https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/krankheitstage-psychische-erkrankungen-100.html
  5.   Hessenschau-Meldung 16.7.2024 https://www.hessenschau.de/panorama/brandbrief-von-therapeuten-das-gesamte-system-koennte-kollabieren-v1,brandbrief-darmstadt-dieburg-102.html
  6.   https://www.leichtathletik.de/aktuelles/news/news-detail/77658-fair-play-preis-des-deutschen-sports-2022-fuer-niklas-kaul-und-simon-ehammer

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