Aus Verantwortung und Überzeugung

Am Sonntagmorgen - Aus Verantwortung und Glaube

epd-Bild / Uwe Möller

Aus Verantwortung und Überzeugung
Als Christ(in) in der EU-Politik
15.10.2023 - 08:35
30.05.2023
Katrin Hatzinger

von Katrin Hatzinger

Über die Sendung:

Zwar pflegt die Europäische Union nach den EU-Verträgen einen „regelmäßigen, offenen und transparenten Dialog“ mit Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, doch Religion und Weltanschauung spielen bei politischen Entscheidungen in Brüssel scheinbar keine Rolle. Inwieweit beeinflusst die eigene christliche Überzeugung die politische Positionierung in einem säkularen Umfeld? Scheint sie vielleicht doch gelegentlich auf die Art und Weise durch, wie in Parlament, Rat oder EU-Kommission Politik  gemacht wird?

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Katharina von Schnurbein: „Ich hoffe, dass der Glaube irgendeine Auswirkung auf meinen Alltag hat, weil ich kann den Glauben ja nicht ausziehen an der Tür und an den Haken hängen. Das ist auch manchmal eine Herausforderung, weil wir als Institution sehr französisch geprägt sind und die Idee, dass Religion und Glaube in den privaten Bereich gehört, sehr gefestigt ist.“

So beschreibt Katharina von Schnurbein ihre Erfahrungen als Christin in der EU-Kommission. Sie ist Beauftragte der Europäischen Kommission für den Kampf gegen Antisemitismus und die Förderung jüdischen Lebens.

Auch wenn der christliche Glaube in der Gründungsgeschichte der EU eine wichtige Rolle gespielt hat, die EU-Institutionen, allen voran die EU-Kommission, sind nach dem Vorbild der französischen Verwaltung aufgebaut. Frankreich ist bekanntlich ein laizistischer Staat, d.h. die Trennung von Staat und Religion wird besonders streng gehandhabt.

Das Motto der Europäischen Union lautet „In Vielfalt geeint“: Die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten und rund 448 Millionen Einwohnern zeichnet sich durch eine Vielfalt an Sprachen, Mentalitäten, Kulturen und Religionen aus. Laut Wikipedia stellen Christinnen und Christen  mit 72,8% weiterhin die größte in der EU vertretene Religionsgruppe.

Allerdings macht die Säkularisierung auch vor der EU nicht halt. Eine Umfrage aus dem Jahr 2021 zu Werten und Identitäten der EU- Bürger zeigt, dass nur 53% der Befragten sich mit ihrer Religion bzw. ihrem Glauben identifizieren. Die höchsten Werte sind in Zypern, Italien und der Slowakei mit 74% zu verzeichnen, die niedrigsten in Schweden, Luxemburg und Dänemark. In Deutschland identifiziert sich lediglich ein gutes Drittel der Befragten mit ihrer Religion.

Wie greifen christlicher Glaube und europa-politisches Engagement ineinander? Dieser Frage bin ich im Gespräch mit ihr und weiteren Beamten der EU-Kommission sowie Abgeordneten des Europäischen Parlaments nachgegangen. Katharina von Schnurbein hat eingangs der Spannung zwischen den beiden unterschiedlichen Bereichen, dem institutionellen und dem persönlichen benannt.

Kann man seinen Glauben, seine christliche Prägung ganz aus dem Tagesgeschäft in der EU-Politik heraushalten? Haben Christinnen und Christen nicht per se einen politischen Auftrag?

Nochmal Katharina von Schnurbein:

„Ich glaube, dass nicht jeder Christ einen politischen Auftrag hat. Jeder Christ hat einen Auftrag. In meinem Fall ist es sicherlich auch ein politischer. Ich glaube, dass viele andere Christen vielleicht zum Beispiel im Sozialen einen Auftrag haben oder im Gesellschaftlichen. Das kommt sehr drauf an. Und oft fallen die Dinge ja auch zusammen.“

Kai Wynands war im Laufe seiner Karriere u.a. Kabinettschef von Vize-Präsident Valdis Dombrovskis. Heute ist er Referatsleiter im Generalsekretariat der Kommission, zuständig für Haushaltsfragen. Er sieht die Frage wie folgt:

Kai Wynands: „Auf jeden Fall. Wir sind erst mal frei. Wir sind befreit, eigentlich von allem und das sollte uns frei machen. Wir sind nicht allein in der Welt, wir sind nicht nur auf uns selbst bezogene Wesen, im Gegenteil. Und deshalb denke ich, ist man schon ein Stück weit berufen, sich einzumischen, sich einzubringen.“

Der CDU-Europaparlamentarier Michael Gahler, außenpolitischer Sprecher der EVP-Fraktion, teilt diese Einschätzung: „Ich finde schon, dass man als Christ einen politischen Auftrag auch hat, der in der Form besteht, dass man im Sinne dessen, was die zehn Gebote oder auch das, was im Neuen Testament beschrieben ist und was Jesus Christus als die Prinzipien aufgestellt hat, für die er gelebt hat und gestorben ist, dass man das in die heutige Zeit überträgt und dafür einen demokratischen Rahmen setzt. Das ist (sowohl auf der nationalen als auch auf der europäischen Ebene,) eigentlich auf allen politischen Ebenen ein Auftrag, nicht im Sinne von zieht aus und überzeugt alle davon, sondern in einem Sinne, dass man persönlich sich Werte (natürlich) setzt und die versucht, im Rahmen der Politik, die man dann betreibt, auch umzusetzen und andere dabei mitzunehmen und zu überzeugen“.

Sein Kollege, der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange, Vorsitzender des Handelsausschusses, ordnet das christliche Engagement geschichtlich und theologisch ein. Bernd Lange: „Und da stehe ich ganz in der Tradition der Barmer Erklärung, dass man natürlich auf der einen Seite Absolutheitsansprüche infrage stellt, als freier Christenmensch, aber auf der anderen Seite auch die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahrnimmt, in dem man an Gottes Gebot, an das Reich Gottes und an die Grundwerte - würden wir heutzutage sagen - erinnert und damit auch eine Verantwortung für die Regierenden formuliert.“

In der Barmer theologischen Erklärung von 1934 hatte sich die Bekennende Kirche im Dritten Reich deutlich gegen die Deutschen Christen und damit gegen die nationalsozialistische Herrschaft positioniert. Die Erklärung gilt als Schlüsseldokument kirchlichen Widerstands. „Barmen“, wie man das in der Kirche abkürzt, widersprach dem Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates. Der Macht des Staates sind vielmehr durch Gottes Gebot, Gottes Reich und Gottes Gerechtigkeit Grenzen gesetzt. Und wo die Politik sich an die Stelle Gottes setzt, ist Widerstand angesagt. Andererseits sollen Christinnen und Christen sich nicht weltfremd verhalten, sondern Politik und Gesellschaft positiv mitgestalten und christliche Werte verwirklichen.

Noch einmal Bernd Lange: „Wie gesagt Barmer Theologische Erklärung macht klar, dass es Leitlinien gibt, an denen sich Christen auch in der Bürgergemeinde zu orientieren haben und auch ein Stück weit manchmal eben den mahnenden Finger oder den Stachel im Fleisch der Genügsamkeit zu heben haben.“

Und so kann gerade das politische Engagement nicht nur Beruf, sondern sogar Berufung sein. Katharina von Schnurbein: „Ich habe in allen Aufgaben, die ich hatte, in der Kommission und ich bin hier seit 22 Jahren immer Arbeiten gesucht, die nicht nur Beruf waren, sondern auch Berufung. Der Dialog, den ich für Präsident Barroso gemacht habe, mit den Kirchen, Religionen und Weltanschauungen ist ein Beispiel.“

Dass die EU-Institutionen nach französischem Vorbild organisiert sind und die Trennung von Politik und Religion streng beachten, ist also nur ein Teil des Gesamtbildes. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zum 1. Dezember 2009 ist der Dialog zwischen Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf der einen und EU-Institutionen auf der anderen Seite rechtsverbindlich geworden. In Art. 17 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union heißt es: „Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“

Der Artikel verdankt sich dem gemeinsamen kirchlichen Engagement auf EU-Ebene und ist ein großer ökumenischer Erfolg. Ohne den politischen Willen der EU-Mitgliedstaaten hätte es Art. 17 allerdings nicht geben können. In ihren Verträgen hat sich die EU eben nicht für das französische Modell der laicité entschieden, dass das Religiöse aus dem öffentlichen Raum verbannt, sondern die EU will bewusst ansprechbar sein auf den „besonderen Beitrag“ der Kirchen und Religionen. Mittlerweile gibt es im Europäischen Parlament und in der Europäische Kommission feste Dialogformate. Katharina von Schnurbein hat über viele Jahre den Dialog mit Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften koordiniert.

Katharina von Schnurbein: „Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass die Kirchen und übrigens auch die Weltanschauungen dass das einfließen kann und dass die Religionen und Kirchen da eine Rolle spielen, weil sie im Leben der Einzelnen eine Rolle spielen und wir, indem wir die Religionen konsultieren, auch die Menschen, die dahinter stehen und die Mitglieder sind, mit konsultieren.“

Für ihre aktuelle Aufgabe ist ihr der christliche Glaube in zweifacher Hinsicht eine Hilfe.

Katharina von Schnurbein: „Also ich glaube, dass sich mein Glaube in zweierlei Hinsicht auswirkt. Das eine ist, dass in der Antisemitismus-Bekämpfung der Wind ins Gesicht bläst und zu wissen, ich bin nicht alleine, ich kämpfe diesen Kampf auch nicht alleine und es ist eine gewissen Weise auch ein Auftrag. Das hilft mir im Alltäglichen sehr und ich muss auch sagen, dass ich in manchen Situationen ganz konkret dann auch mal ein Stoßgebet mache. Und das andere ist die Empathie. Ich glaube, dass Jesus war sehr empathisch (mit) mit Menschen aller Herkünfte. Und das ist was, was uns oft fehlt als Institution.

Dass wir die Situation sehen, wie sie die Menschen, die davon betroffen sind, fühlen, und dass das hilft, ganz konkret, sich da immer wieder drauf zu besinnen und dann diese Empathie auch zu zeigen.“

Kai Wynands : „Als Christ erst mal persönlich ist man ein Stück weit getragen, ist auf der trockenen Seite. Das entgeht einem manchmal vor lauter Arbeit, wenn man zu sehr im Wald steht und die Bäume nicht mehr sieht. Aber es relativiert auch vieles.“

So beschreibt Kai Wynands die Bedeutung seines Christseins im Arbeitsalltag. Und Bernd Lange meint: „Also, wenn ich sehe, wie manchmal das Seelenheil von anderen an bestimmten Erfolgen und sich darstellen oder so abhängig ist, da kann ich nur sagen: so what? Mein Herz hängt an was anderem und das gibt mir Ruhe und Gelassenheit. Ich mache ja hauptsächlich Handelspolitik und da ist natürlich die Wertschätzung eines jeden Menschen ganz entscheidend, wenn man ja ökonomische Beziehungen gestaltet. Und gerade in Hinsicht von dem globalen Süden spielt das schon eine große Rolle, so dass man immer sehr genau guckt, welche Konsequenzen hat welche Entscheidungen für die einzelnen Menschen“.

Auch für Michael Gahler verbindet sich seine christliche Überzeugung mit seiner derzeitigen Aufgabe als Ukraineberichterstatter des Europäischen Parlaments:

Michael Gahler: „Also ich glaube, dass ich bei den Themen, mit denen ich mich befasse, werteorientiert und geleitet agiere also als Ukraineberichterstatter des Parlaments ist es  ganz offensichtlich, wer das Böse ist das Böse, das politisch und auch militärisch und wirtschaftlich zu bekämpfen ist. Dieses Gut und Böse, das haben wir ja im Christentum auch.“

Die Gründungsväter der EU, Adenauer, de Gaspari und Schuman waren alle drei Katholiken, aber auch alle von der einenden Kraft der Ökumene überzeugt. Ist die EU also ein christliches Projekt?

Michael Gahler: “Ich würde nicht sagen, dass die EU ein christliches Projekt ist, sondern rein faktisch haben wir in der Gründungsphase viele Christdemokraten in führenden Funktionen gehabt, die aus auch aus der tragischen Erkenntnis, dass eben die Diktaturen, die (die) deutsche und andere Diktaturen diesen schrecklichen Zweiten Weltkrieg herbeigeführt haben, auch weil es eben (ein) ein fehlendes christliches Bekenntnis gab. Man könnte einen wie Adolf Hitler oder in anderer Funktion auch Josef Stalin sicherlich als Antichristen bezeichnen, weil eben keinerlei Werte diese Diktatoren gehindert haben, die schlimmsten Verbrechen zu begehen. Es war ein Mangel von christlicher Überzeugung, aber auch ein Mangel an Christen in der Politik, die sich rechtzeitig dagegen gewendet haben.“

Christliche Grundwerte sind fester Bestandteil der EU-Politik, meint Katharina von Schnurbein: „Wenn man sieht, die christliche Soziallehre zum Beispiel und das vergleicht mit dem, was die EU an Sozialpolitik über die Jahrzehnte entwickelt hat, dann gibt es da sehr viele Überschneidungen. Und ich glaube, das liegt nicht daran, dass notwendigerweise alle, die daran gearbeitet haben, sich an der christlichen Soziallehre orientiert haben, sondern dass diese christliche Soziallehre eben etwas Wahres hat.“

Kai Wynands ist der Meinung: „Also erst mal Europa an sich als Wert. Ich denke jetzt nicht, dass wir der gottgewollte Kontinent sind. Am europäischen Wesen soll die Welt genesen. Aber wir haben Vieles. Und gerade dadurch, dass wir für Toleranz, für Vielfalt stehen, ja auch zu unserer Geschichte stehen, dass wir uns versöhnt haben, sind wir schon ein großer Exporterfolg. Hoffentlich für die Welt über Europa hinaus.“

Angesichts der großen Herausforderungen vor denen Europa durch den Ukrainekrieg, den Klimawandel, die Migration und den zunehmenden Nationalismus und Populismus, steht, gilt es weiterhin, nationale und konfessionelle Grenzen zu überwinden und das Gemeinsame zu betonen.

Dazu können ein wenig mehr christliche Gelassenheit, Gottvertrauen und ökumenische Einigkeit sicherlich beitragen.

Letztlich geht es darum, das Motto der EU zu leben und trotz aller Unterschiede Einheit in versöhnter Verschiedenheit wahr werden zu lassen: als Christinnen und Christen, als Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen und als Europäerinnen und Europäer.

Es gilt das gesprochene Wort.

30.05.2023
Katrin Hatzinger