Gewalt

Am Sonntagmorgen

Bild: Oberstleutnant D. Schachel, Bw

Gewalt
Der realistische Blick Jesu auf die Welt
18.09.2016 - 08:35
04.07.2016
Pfarrerin Claudia Kiehn und Pfarrer Thomas Thiel

Über die Sendung

Nach einer langen Zeit des Friedens in Deutschland wächst die Angst vor zunehmender Gewalt. Die Religionen spielen dabei eine immer größere Rolle. Es ist leicht, den Islam als gewalttätig wahrzunehmen, aber wie steht es um das innere Gewaltpotential des Christentums? Oder führt eine gottlose Welt erst recht zur Eskalation von Gewalt?

 

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Thomas Thiel:

Früher Morgen. Kabul. Die Detonationswelle war so stark, dass ich im Bett ein Stück emporgehoben wurde. Druck auf den Ohren und die sofortige Gewissheit: ein Anschlag. Ich versuche zu denken: wie weit war das wohl entfernt? Was muss ich jetzt tun?
Ich ziehe schnell meine Schutzkleidung an, laufe nach draußen auf den Flur.

Es dauert eine Stunde, bis wir Gewissheit haben. Eine Stunde ist eine Ewigkeit. Es hat das Nachbarcamp getroffen. Ein Selbstmordattentäter, Sprengsatz auf dem Mofa, 5,6,7 Tote, genau weiß es noch keiner.

 

Claudia Kiehn:

Ich sitze am Schreibtisch, bereite den nächsten Gottesdienst im Camp Marmal in Mazar-e-Sharif vor. Plötzlich höre ich einen lauten Knall – ein Geräusch, dass ich so noch nie gehört habe. Vor dem Gebäude sehe ich: nicht weit von uns entfernt steigt schwarzer Rauch auf. „Schutzweste und Helm“, ruft mein Unterstützungssoldat mir zu. Wir suchen den Schutzraum auf. Während die Soldaten Wache stehen, bleibt uns nur: Warten…


Thomas Thiel:

Wir haben es erlebt, in Afghanistan, als Evangelische Militärgeistliche. Unsere Aufgabe: Begleitung der Soldatinnen und Soldaten.
Die Detonationswelle, der entfernte Raketeneinschlag – harmlos gegenüber vielem, was Soldaten und Bevölkerung an Gewalt erleben müssen.
Seit 14 Jahren ist die Bundeswehr im Einsatz im Land am Hindukusch. Es ist noch immer Krieg in Afghanistan, doch längst sind andere Schreckensorte in den Fokus geraten.

Die Zeit, die Soziologen den „Langen Frieden“ nennen (Pinker, Gewalt, S. 290ff), scheint vorbei. Die Medien berichten fast täglich von Anschlägen, Terror und Krieg. Gewalt scheint überall zu sein – und zunehmend näher zu kommen.

Spätestens in diesem Jahrhundert beginnt mit nine-eleven die Zeit einer auch medial gezeigten Gewalttätigkeit. Der Schrecken, wie das zweite Flugzeug in den Süd-Tower in New York flog, wurde zum Ur-Erlebnis des Terrors für die westliche Welt. Er dient als Folie für alles, was danach kam: Madrid, London, Paris, Brüssel, Nizza, Ansbach. Stand... August 2016.

 

Claudia Kiehn:

Wenn Menschen über Gewalt reden, wenn sie versuchen zu beschreiben, wie sie in ihr Leben einfällt, oder vielleicht schon immer da ist, dann sind es zunächst die Terrorszenarien in den Medien, die sich aufdrängen. Bei vielen Menschen sind es aber persönliche, ganz konkrete Erfahrungen. Auch bei den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Sie haben auf dem Balkan, in Afrika, in Afghanistan oder im Irak gesehen und erlebt, was Gewalt ist. Viele tragen schwer an diesen Erfahrungen. Auch wenn Medien fast täglich Gewalt zeigen – oft verdeckt die Bilderflut, was dahinter steckt: Menschen üben Gewalt aus. Menschen töten Menschen. Menschen leiden und haben Angst.
Wo hat das alles angefangen? Wird damit nie Schluss sein?

Würde das nicht reichen? Ein bisschen Frieden? Wenigstens in den eigenen vier Wänden?
Ein bisschen Frieden: man dürfte nur den Fernseher nicht anmachen, den PC nicht benutzen, sich nicht dem Straßenverkehr aussetzen. Man müsste zu Hause bleiben und sich einschließen. Doch Gewalt ist omnipräsent. Sie lässt sich nicht aussperren aus der Privatheit des eigenen Lebens.

Statt Ausgrenzung braucht es vielmehr den Kontakt von Mensch zu Mensch, Gespräche von Angesicht zu Angesicht, Begegnung mit den mir fremden Menschen – die Hirnforschung hat das längst als Bedingung für ein gutes Leben bestätigt.
Die Art der Kommunikation verändert sich jedoch zunehmend – und findet oft nur noch digital statt. Mögliche Folge: Ich distanziere mich immer mehr, von mir selbst und von anderen Menschen. Der Soziologe Harald Welzer sieht in der zunehmenden Distanzierung einen Grund für steigende Gewaltbereitschaft:

 

„Selbststeuerung nimmt ab, Fremdsteuerung nimmt zu ... Das heißt aber auch: Je distanzierter mein eigenes Verhältnis zur Welt ist, desto größer ist die Gewalt, die ich der Welt anzutun bereit bin.(...)“ „Je weniger wirksam ich mich selbst erlebe, desto distanzierter ist mein Verhältnis zu mir selbst, und desto größer ist die Gewalt, die ich mir selbst anzutun bereit bin. Schon, weil ich sie gar nicht als solche empfinde.“ (Welzer, Die smarte Diktatur, S. 164)

 

Thomas Thiel:

Die Erkenntnisse des Soziologen lassen ahnen, welche Voraussetzungen eine Rolle spielen bei Amokläufen und Terroranschlägen. Vermischen sich persönliche Enttäuschungen, fehlende Perspektiven, Drogen und falsche Versprechungen, - religiös oder ideologisch -  steigt die Gefahr einer tödlichen Gemengelage.

Auf der anderen Seite wächst eine latente Angst: „Es könnte auch mich treffen.“ Auch mit diesem Gefühl lässt sich nicht gut leben. Auch dieses Gefühl sucht sich sein Ventil im Rückzug auf sich selbst, riskiert Freiheit für Sicherheit und setzt auf Abgrenzung statt auf Begegnung.

Der Wunsch ist so verständlich wie verbreitet: Ein bisschen Frieden. Wenigstens für mich und meine Familie. Doch selbst wenn ich das Glück hatte, als Kind nicht missbraucht worden zu sein, wenn ich das Glück habe, Freunde und Freundinnen zu haben, mit denen ich reden kann, wenn es mir gelingt, alle Erkenntnisse über meine eigene Verstrickung in Gewalt zu verdrängen – bin ich dann ein gewaltfreier Mensch?

 

Claudia Kiehn:

Die Bibel erzählt in ihren Urgeschichten ganz am Anfang von den Grundlagen des Menschseins. Das, was dort erzählt wird, ist Gegenwart. Ich bin Kain und Abel. Das Bruderpaar, die Kinder von Adam und Eva. Einer der Mörder und der andere das Opfer.

Lasse ich den biblischen Text so an mich heran, erzählt die Kain-und-Abel-Geschichte von mir selbst…
Wie jeder Mensch will ich Anerkennung, will einen Ort in der Welt, an dem ich nicht um meine Daseinsberechtigung kämpfen muss. Kain scheint dieser Ort verwehrt, denn Gott hat Abel, aber nicht sein Opfer „gnädig angeschaut“ (Genesis 4,5). Kain fühlt sich ungerecht behandelt, sieht sich selbst als Opfer von Gottes unergründlichem Handeln. Oder Kain hat sich schlicht nicht die Mühe gemacht, auf das Geschenk Gottes, den fruchtbaren Acker, mit einem adäquaten Dankopfer zu antworten. Die Urgeschichte der Bibel ist hier merkwürdig offen, lässt Raum die verschiedensten Deutungen hinein oder herauszulesen.
Gott schätzt das freiheitliche Tun und Handeln des Menschen so hoch ein, dass er Kain mit seinem Zorn konfrontiert. Denn beleidigt verkrümmt Kain sich in sich selbst und bricht den Kontakt ab. Er ist zu schwach, sein Haupt zu erheben und frei und ohne Gewalt zu argumentieren. Stattdessen „ senkte er finster seinen Blick“ (ebd.). Und hat seinen Bruder getötet.

Kain und Abel, beide bin ich selbst. Und die Urgeschichte, das ist auch die reiche Industrienation, die Menschen anderswo für sich arbeiten lässt – unter unwürdigen Bedingungen. Das ist auch der Mensch, der vor Armut, Hunger und Gewalt flieht. Das ist auch der Mensch, der sich für ein Opfer hält und schnell zum  Täter wird. Oder tatenlos zusieht.

Die Urgeschichte endet im brutalen Gewaltakt. Abel, der freie, friedliche Anteil in mir scheint tot. Abel heißt „Hauch“. Was in mir schutzlos ist, was nicht widersprechen kann, das wird durch Gewalt zunichte gemacht. Weil sich der Kain in mir nur als Opfer sehen kann. Oder weil ich, Kain, meine Dankbarkeit dem Gewinn opfere, den ich mir verspreche, wenn ich das Beste meiner Ernte allein für mich behalte.

 

Thomas Thiel:

Jesus bringt diesen ständigen Konflikt auf den Punkt. Realistisch sieht er meine eigene Verstrickung in Macht und Gewalt -  und erinnert damit an die Freiheit, mich entscheiden zu können:

 

„Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ (Mt 6,24)

 

Thomas Thiel:

Es ist eine Herausforderung, mich mit meiner eigenen Verstrickung in die realen Macht- und Gewaltstrukturen auseinander zu setzen. Wie gerne würde ich einfach wegschauen. Mich am liebsten nur für Abel halten. Mich in ein gewaltfreies Paradies wünschen. Aber solche Weltflucht wäre verantwortungslos. Und Abel gibt wenig Anlass zur Hoffnung.
Jesu Blick auf die Welt ist realistisch: Er durchschaut die Realität und beschreibt sie als Gewalt-Zusammenhang. Eine Welt-Flucht, den Rückzug auf mich selbst, empfiehlt er eben nicht. Im Gegenteil: im Gebet wendet er sich an Gott:

 

„Ich bitte dich nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen“ (Joh 17,15)

 

Thomas Thiel:

Ich bewege mich in der Welt, in der Gewalt allgegenwärtig ist und bin auch immer Teil von ihr. Ich wohne im reichen Teil dieser Erde und bin Mittäter, wenn ich von Gewinnen auf Kosten anderer lebe und nicht teile. Und gleichzeitig bin ich Opfer, wenn ich mich bedroht fühle. Wie gern würde ich wegschauen. Aber entfliehen kann ich nicht. Stattdessen will ich frei sein und aufbegehren gegen alle Gewalt. Will zum Menschen werden wie Jesus mir zumutet, indem ich Böses mit Gutem, die Gewalt der Welt mit meinem Handeln „überwinde.“ (vgl. Röm 12,21) Ich will der Welt nicht mehr Recht einräumen, als ihr zusteht, ‚dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Mk 12,17).

In einer Welt voller Gewalt ist das nicht einfach. Pazifismus, absolute Gewaltfreiheit erscheint als weit entfernte Hoffnung, ein Hauch nur –  aber selten als Lösung. Oder ist es in dieser Welt sogar Christenmenschenpflicht, dem Bösen auch mit aller Gewalt entgegen zu treten? Bis heute provozierend schreibt schon Martin Luther:

 

„Denn was ist Kriegführen anderes als Verbrecher bestrafen und Frieden bewahren?“ (Martin Luther, Ob Kriegsleute, S. 22)

 

Claudia Kiehn:

Gibt es für mich einen gangbaren Weg, heraus aus dogmatischen Fallen und weiter als nur pragmatische Lösungen? Einen Weg, den ich verantworten und mit gutem, wenn auch angefochtenem Gewissen gehen kann?

In der fünften These der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode in Barmen vom Mai 1934 heißt es:

 

Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.

 

Claudia Kiehn:

In dieser „noch nicht erlösten Welt“ zu leben, heißt für mich, dass wir uns schuldig machen so oder so. Ob wir nun eingreifen, wo Unrecht geschieht, im Kleinen wie im Großen, in unserem Land oder in anderen Ländern – notfalls eben auch mit Gewalt. Oder wenn wir jedes Eingreifen unterlassen. Wenn wir ohne zu handeln zusehen, wie Menschen nah und fern unter Gewalt und Ungerechtigkeit leiden. Das ist das Dilemma, in dem wir alle stehen. Nicht nur die Soldatinnen und Soldaten, die in unserem Auftrag in die Krisengebiete dieser Welt gesandt werden oder eben auch nicht. Ich bin ein Teil des „wir“ – ob ich will oder nicht.

 

Thomas Thiel:

Je konkreter meine Erfahrungen mit Gewalt sind, um so deutlicher wird, dass sie nicht nur den Leib, sondern auch die Seele zerstören. Dass immer mehr Menschen durch Gewalt „traumatisiert“ sind. Was es heißt, mit einem solchen Trauma leben zu müssen, kann ich leibhaftig spüren, wenn mir Soldaten im Bundeswehrkrankenhaus ihre Einsatzgeschichten erzählen. Ich höre, wie eingeschränkt ihr Leben geworden ist, und spüre Angst und Unsicherheit als ihre ständigen Begleiter. Ahne, welche Last Partner zu tragen haben und wie sehr die Kinder davon betroffen sind. Fast immer sind es viele Jahre, bis ein Mensch mit einem solchen Trauma einigermaßen gut leben kann.

 

Claudia Kiehn:

Je konkreter darüber geredet, gestritten und dafür gekämpft wird, der Gewalt ein Ende zu bereiten, um so bedrückender sind die konkreten Erfahrungen. Für mich waren es tatsächliche Bedrohungen. Wer einmal den Knall einer explodierenden Rakete oder Granate gehört hat, vergisst ihn nicht. Ich möchte ihn nie wieder hören. Und wünsche mir, dass kein Mensch das mehr hören muss.

 

Thomas Thiel:

Ob beim gewaltsamen Streit in der U-Bahn, gewaltbereiten Demonstranten gegenüber oder auf den Gefechtsfeldern in Mali und Afghanistan: Je freier darüber geredet werden kann, dass es Situationen gibt, aus denen man ohne Schuld und mit weißer Weste nicht mehr herauskommt, um so ehrlicher wird auch der Blick auf mein eigenes Gewaltpotential. Es ist einfach da. Aber davor muss ich keine Angst haben, das zeigt mir der Blick auf die biblischen Erzählungen. Ich muss nicht immer wieder Kain sein. Es gibt auch ein Friedenspotential in mir und die Freiheit, mich zu entscheiden. Es ist Jesu Realismus, der mich hoffen lässt: Ja, in dieser noch nicht erlösten Welt gibt es Gewalt und Unrecht. Aber beides darf und wird nach Gottes Willen nicht das letzte sein. Ich werde den Frieden nicht schaffen, aber ich kann dazu beitragen. Die Begegnung suchen und Verbündete – um blindem Zorn genauso zu widerstehen wie dem Gefühl nur hilfloses Opfer zu sein. In alledem weiß ich aber auch: die Überwindung von Gewalt und ein gerechter Frieden - das ist ein Geschenk, ist Gnade, die ich nur dann nicht aus den Augen verliere, wenn ich sie immer neu erbitte:

 


Literatur

Bauer, J., Schmerzgrenze, München 32011
EKD Texte 116, Hannover 2013
Luther, M., Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, Hrsg. Dörfler-Dierken u.a., Delitzsch 2014
Pinker, St., Gewalt, Frankfurt a.M., 2011
Welzer, H., Die smarte Diktatur, Frankfurt a.M., 2016
Zizek, S., Gewalt, Hamburg 2011

04.07.2016
Pfarrerin Claudia Kiehn und Pfarrer Thomas Thiel