Schäm dich. Nicht

Schäm dich. Nicht

Caleb Woods / Unsplash

Schäm dich. Nicht
Einladung zur Freiheit
29.08.2021 - 08:35
24.08.2021
Susanne Niemeyer
Über die Sendung:

Als Adam und Eve einander kennenlernten, war alles unkompliziert. Doch Scham ist das erste Gefühl, das in der Bibel auftaucht. Ein ambivalentes Gefühl. Zu viel davon tut nicht gut – es macht uns kleiner, als wir sind. Zu wenig davon tut auch nicht gut – es macht uns größer, als wir sind. Scham ist die innere Stimme, die sagt: Du bist nicht Gott. Doch das brauchst du auch nicht zu sein!

 
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Als Adam und Eva einander kennenlernten, war alles unkompliziert. Hatte Adam einen Bauchansatz? Waren Evas Beine rasiert, lag ihr Bodymassindex im grünen Bereich? War Adam ein echter Mann, war Eva eine richtige Frau? Wir wissen es nicht. Alles, was berichtet wird, ist: Sie waren nackt und schämten sich nicht. Offenbar gab es nichts zu verheimlichen und nichts zu retuschieren. Sie waren, wie sie waren, und das war gut.

 

 

 

Anfang zwanzig wurde ich zum ersten Mal mit den Haaren auf meinem Körper konfrontiert und der Ansage, dass sie da nichts zu suchen haben. Bislang hatte ich sie zur Kenntnis genommen wie meine Ohrläppchen und meinen linken kleinen Zeh. Sie waren eben da, benötigten aber keine besondere Aufmerksamkeit. Auf einmal wurden sie peinlich. Ich lernte, mich zu rasieren und mich zu schämen, wenn ich es vergaß. Heute gibt es in sozialen Netzwerken ernsthafte Diskussionen darüber, wie schlimm es ist, wenn Frau (zuweilen auch Mann) Körperhaar zeigt. Und nicht nur darüber – auch über die Lücke zwischen den Oberschenkeln und die Optik der Schamlippen kursieren Schönheitsvorgaben. Bodyshaming nennt man die Ansage, wenn nicht alles passt.

 

 

 

Scham ist ein fieses Gefühl. Es suggeriert: Du bist nicht richtig. Du gehörst nicht dazu. Wie kannst du es wagen, dich so zu zeigen? Körperbehaarung ist da noch ein vergleichsweise kleines Problem. Man kann sich schämen, arm zu sein, die Verhaltenscodes für eine bestimmte Gruppe nicht zu kennen, keine Kinder oder zu viele Kinder zu haben, den falschen Beruf auszuüben und „nur“ Putzkraft zu sein. Menschen schämen sich, gemobbt oder missbraucht worden zu sein. Man kann sich schämen, da zu sein.

 

Ich habe mich schon oft geschämt. Etwas Unpassendes gesagt zu haben. Dass ich als Außenseiterin oder als Hochstaplerin entlarvt werde. Dass mein Rucksack umfällt und ein Dutzend Tampons über den Boden rollt. Ich schäme mich über einen Gedanken, den ich nicht für möglich gehalten habe, zu denken. Ich schäme mich, wenn Schadenfreude in mir hochkommt. Ich schäme mich für manche Sachen, die ich gesagt habe, obwohl es schon Jahre her ist. Ich habe mich dafür geschämt, dass meine Eltern geschieden waren (gute Entscheidung, denke ich jetzt). Ich habe mich geschämt, wenn ich beim Sport mal wieder über dem Reck hing wie ein nasser Sack.

 

Es gibt einen Berg von Dingen, für die man sich schämen kann. Meistens liegt der Scham dasselbe Gefühl zugrunde: Du bist falsch. Oder: Was du tust, ist falsch. Was allerdings ein himmelweiter Unterschied ist.

 

 

 

 

Adam und Eva kannten keine Scham. Zunächst. Sie kannten ja noch keinen Unterschied. In ihrem Universum gab es kein gut und böse, gab es kein richtig und falsch. Dann kam die Versuchung und flüsterte ihnen ein: Ihr könnt größer sein. Sie lernten das Wort Selbstoptimierung kennen. Auf einmal reichte es nicht mehr, einfach da zu sein. Sie wollten andere werden. Sie wollten sein wie Gott.

 

 

 

Da erkannten sie: wir sind nackt.

Nun liefen die beiden von Anfang an unbekleidet nebeneinander her. Es wird von keinem Engel berichtet, der sagt: Zieht euch was an. Hätte die Schöpfungsgeschichte den Menschen einkleiden wollen, hätte sie es getan. Es geht um etwas anderes. In einem paradiesischen Zustand braucht niemand etwas zu verbergen. Das Paradies ist frei von Bewertung, frei von Urteilen, frei vom Vergleich. Alles steht gleich und gut nebeneinander.

Als die Erkenntnis Adam und Eva die Augen öffnete, sahen sie: Wir sind gar nicht gleich. Wir träumen unterschiedlich, wir haben unterschiedliche Vorlieben, wir essen lieber Schokoladen- oder Vanilleeis, wir haben runde oder flache Bäuche, männliche oder weibliche Geschlechtsteile oder irgendetwas dazwischen, wir neigen zum Pessimismus oder sind zuversichtlich. Wir sind verschieden. Plötzlich taucht die Frage auf: Wenn ich nicht wie du bin – bin ich dann falsch? Und wenn du erkennst, dass ich anders bin – wirst du mögen, was du siehst? Wirst du mir vertrauen? Wirst du mich verstehen?

 

 

 

 

Es reichte nicht mehr aus, einfach zu sein. Jetzt ging es darum, richtig zu sein.

Eva lernte im Lauf der Jahrtausende, dass sie das schwache Geschlecht sei, dass sie lieber fühlen als denken solle, dass Mathe nicht ihr Lieblingsfach ist, dass sie kommunikationsfreudiger ist als Adam, dass sie besser bügeln kann und ein natürliches Kinderwunschgen in sich trägt.

Adam musste sich damit abfinden, dass er angeblich lieber Geld verdient und Holz fällt als einen Kinderwagen zu schieben, dass Tränen nur auf dem Fußballfeld okay sind, dass der Wunsch, sich zu schminken oder ein Kleid zu tragen seiner Männlichkeit entgegensteht, dass er für Kriege zuständig ist oder wenigstens dafür, die Wasserkisten in den Keller zu tragen.

Wer anders ist, sollte sich schämen.

 

 

 

 

Scham ist das erste Gefühl, das in der Bibel auftaucht.

Wer sich schämt, verfehlt ein Ideal. Ich bin anders, als ich sein soll. Oder ich bin anders, als ich sein will. Scham hat aber auch eine hilfreiche Seite. Sie erinnert mich daran, nicht falsch zu handeln. Meine Ideale nicht zu verletzten, die Regeln des Zusammenlebens, die helfen, niemandem zu schaden. Du sollst nicht töten, keine Unwahrheiten verbreiten und dich nicht am Besitz der anderen vergreifen. Das Gefühl der Scham signalisiert: Ich habe eine Grenze überschritten (oder bin im Begriff, sie zu überschreiten.) Wenn ich das willentlich trotzdem tue, wird aus Scham Sünde.

Die Anfangsgeschichte von Adam und Eva ist als „Sündenfall“ bekannt. So steht es als nachträglich zugefügte Überschrift in vielen Bibelübersetzungen. Dabei kommt das Wort „Sünde“ in der Erzählung überhaupt nicht vor. Es taucht erst viel später auf: Nämlich, als Kain den Gedanken schmiedet, seinen Bruder zu töten und niemandem mehr in die Augen sehen kann. Gott sagt zu ihm: „Wenn du Gutes im Sinn hast, kannst du den Kopf frei erheben; aber wenn du Böses planst, lauert die Sünde vor der Tür deines Herzens und will dich verschlingen. Herrsche über sie!“ Kain entscheidet sich anders. Er schlägt Abel tot. Obwohl er den Unterschied zwischen gut und böse kennt. Obwohl er weiß, dass sein Handeln falsch ist.

Nackt durch die Welt zu laufen, ist keine Sünde. Zu töten schon.

 

 

Als Adam und Eva erkannten, dass sie nackt sind, waren es nicht ihre Geschlechtsorgane, derer sie sich schämten. Sie scheinen eine andere Blöße erkannt zu haben: Wozu sie fähig sein könnten. Kain, nicht Abel zu sein.

Das Paradies hatte Risse bekommen. Adam und Eva mussten es als Ort eines unschuldigen Lebens verlassen. Ein kleiner Satz markiert den Übergang: Gott machte ihnen Kleider. Nicht um anständig angezogen zu sein, sondern um ihr Innerstes zu schützen. Vor allzu prüfenden Blicken. Vor Ablehnung. Auch vor der Versuchung, zu viel von sich preiszugeben. Kleider können schützen und Scham kann beschützen: Das Geheimnis einer Person. Scham schützt vor der Versuchung, alles zu zeigen und sich zu entblößen, wo es nicht gut tut, sich zu entblößen, weil man verletzt werden könnte. Niemand muss das. Nicht mal in der engsten Beziehung. Jeder Mensch hat ein Recht auf geheime Gedanken. Auf Sehnsüchte. Sogar auf Abgründe. Jeder Mensch hat das Recht auf einen inneren Raum, der nur ihm oder ihr gehört.

 

 

 

 

Dafür braucht sich niemand zu schämen. Aber: Schämen muss sich, wer die Räume anderer Menschen stürmt. Schämen muss sich, wer Kinder missbraucht. Wer aus der Not anderer Profit schlägt. Wer hohe Provisionen für Masken einsteckt. Wer Skrupellosigkeit zur Charakterstärke erhebt. Schämen muss sich, wer Menschen jagt und Hass verbreitet. Wer die Angst anderer für die eigenen Zwecke nutzt. Wer sein Gewissen unter den Tisch fallen lässt und so tut, als lebe er besser ohne es. Schämen muss sich, wer den Splitter im Auge der anderen anprangert, aber den Balken im eigenen Auge ignoriert.

 

Scham ist ein ambivalentes Gefühl. Zu viel davon tut nicht gut – es macht uns kleiner, als wir sind. Zu wenig davon tut auch nicht gut – es macht uns größer, als wir sind. Scham ist die innere Stimme, die sagt: Du bist nicht Gott. Brauchst du auch nicht zu sein.

 

 

 

 

„Der liebe Gott sieht alles“, habe ich irgendwann gehört. In einem Kinderlied aus den 1970ern heißt es: „Pass auf, kleines Auge, was du siehst! Pass auf, kleiner Mund, was du sprichst! Pass auf, kleine Hand, was du tust! Pass auf, kleines Herz, was du glaubst! Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich…“
Gott als großer Stalker. Als verlängerter Arm irdischer Moral: Gott sieht, wenn du auf Mama und Papa wütend bist. Wenn du Kekse aus der Dose klaust. Gott sieht, wenn du heimlich rauchst, wenn du masturbierst, wenn du davon träumst, deinen Schwarm aus der Nachbarklasse zu küssen. Gott sieht all deine Gedanken. Über allem schwebt das Damoklesschwert der Scham. Denn wie wahrscheinlich ist es, einen solchen Gott zufriedenzustellen?

Ich glaube nicht, dass Gott ein Aufpasser ist. Ich glaube auch nicht, dass Gottes Blick beschämt. Er richtet auf.

 

Adam und Eva haben viele Nachkommen. Sie sind Allerweltsmenschen und tragen unsere Namen. Adam ist ein Angsthase. Eva will endlich aufhören, ihre Körperhaare zu entfernen. Simon wohnt im Nachbarhaus und liebt Joschua. Werner singt im Kirchenchor und träumt manchmal von Sachen, die er keinem erzählen würde. Elisabeth träumt mit 79 immer noch von Sex – und schläft mit einem jüngeren Mann. Klaus weint, wenn er den Soldaten James Ryan sieht und wenn er im Stadion die Nationalhymne singt. Esther kocht für sieben Enkel und weigert sich, zur Sportgruppe zu gehen. Ben pflückt Blumen und spielt gern Paintball. Janne baut lieber ein Bücherregal anstatt zu bügeln. Michael träumt davon, Michaela zu heißen. Christiane ist es manchmal unangenehm, einfach nur Mutter zu sein und liebt es trotzdem. Kemal will der Stärkste sein und dennoch zärtlich. Laya wird Physikerin und kauft Kuchen eingeschweißt im Supermarkt. Oliver neigt zur Hochstapelei und besitzt gleichzeitig eine gute Portion Selbstironie. Maren liebt Tom und liebt Yasmin.

 

Und für nichts davon, aber auch für gar nichts davon brauchen sie sich zu schämen.

 

Weil ein wohlwollender, zutiefst freundlicher Blick auf ihnen ruht, der sagt: Du bist richtig. Dieser Blick gilt jedem Menschen, und wer das vergisst, kann sich erinnern, wenn das Gefühl, falsch zu sein, groß ist: Du bist sehr gut.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik in dieser Sendung:

 

  • HE/RO – Falsch mit mir, CD-Titel: Falsch mit mir
  • Bending Times: Grosch, Christian; Schrader, Thoralf; Lange, Enno - Aus tiefer Not schrei ich zu dir, CD-Titel: Bending Times – Songs of faith
  • The Police, Sting – Every breath you take, CD-Titel: Every Move You Make: The Studio Recordings
  • Hoffmann, Klaus – Weil du nicht bist wie alle andern, CD-Titel: So wie ich bin, 1975-1995
24.08.2021
Susanne Niemeyer