Frei und Gleich?

Gedanken zur Woche
Frei und Gleich?
Gedanken zur Woche mit Lucie Panzer
06.08.2021 - 06:35
04.08.2021
Lucie Panzer
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Gedanken zur Woche von Lucie Panzer

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Am Montag konnte man in den Zeitungen von Kristina Timanowskaja lesen. Timanowskaja ist eine Sprinterin aus Belarus. Sie sollte bei den Olympischen Spielen in Tokio über 200 Meter starten und hatte Kritik am belarussischen Cheftrainer geübt. Daraufhin sollte sie gegen ihren Willen zurück in ihre Heimat reisen.  Dort, so befürchtet die Sportlerin, werde sie „im Gefängnis landen“[1].

 

In einem Land, dessen Herrscher ein Flugzeug zur Landung zwingt um einen regierungskritischen Journalisten zu verhaften, wie Ende Mai geschehen, wundert einen das nicht. Wie gut, dass die Sportlerin nun Asyl in Polen erhält. Am Montag hat man ihr in der polnischen Botschaft in Tokio ein humanitäres Visum ausgehändigt, am Mittwoch konnte sie über Wien nach Warschau starten. In Polen werde man ihr helfen, ihre sportliche Karriere fortzusetzen, hat man ihr versprochen. Humanitäres Asyl hatten ihr auch Tschechien und Slowenien angeboten. Der Ehemann der Sprinterin hofft, ihr über die Ukraine nach Polen folgen zu können.

Am Dienstag dieser Woche konnte man in den Zeitungen lesen, dass das Rettungsschiff Ocean Viking einen sicheren Hafen sucht für fast 800 Geflüchtete, die man aus dem Mittelmeer gerettet hat. Von Malta gab es gleich eine Absage, Libyen und Tunesien haben noch nicht reagiert, Italien anscheinend bisher auch nicht. 800 Menschen, darunter Frauen und Kinder, das jüngste 3 Monate alt. Und niemand will sie an Land lassen, geschweige denn, ihnen Asyl gewähren. Die Staaten am Mittelmeer weigern sich seit langem, weitere Geflüchtete an Land zu lassen, weil ihre Weiterreise und Aufnahme in die übrigen EU-Staaten nicht gewährleistet ist. Besonders die sogenannten Visegrad-Staaten, unter anderem Polen, Tschechien und Slowenien weigern sich, auch nur über die Verteilung Geflüchteter zu verhandeln. Und solange es keine „gesamteuropäische Lösung“ gibt, sind auch Deutschland und die anderen Staaten nur in sehr geringem Maße bereit dazu.

Mich erschreckt das Nebeneinander dieser Nachrichten. Gibt es denn Menschen erster und zweiter Klasse? Kristina Timanowskaja und die Geflüchteten aus Afrika. Sie hat Angst vor dem Gefängnis in Belarus. Die Afrikaner davor, dass man sie in Libyen in Gefängnisse steckt, die die Hölle sind. Oder Angst vor Verfolgung oder einfach der Zukunft im Elend ihrer Herkunftsländer.

 

Ich begreife, dass es leichter ist, einer Athletin Asyl zu gewähren, die dann vielleicht sogar eine Spitzensportlerin für das Land wird, das sie aufnimmt. Leichter, als 800 Geflüchtete zu integrieren, die weder Sprachkenntnisse und kaum eine Ausbildung haben und aus einem ganz anderen Kulturkreis kommen. Bloß: Auch sie sind Menschen. Ihre Ängste sind dieselben. Auch sie haben Hoffnung auf Schutz und Hilfe und Zukunft. Auch sie hoffen auf Menschen und Länder, die ihnen beistehen.

 

Polen, Slowenien und Tschechien sind Staaten in der Mitte Europas. Staaten mit mehr oder weniger ausgeprägter christlicher Geschichte und Tradition, so, wie überhaupt alle Staaten Europas. Ich frage mich: Wie können sie einen so großen Unterschied machen zwischen der einen und den anderen verzweifelten Flüchtlingen? Wir Christen glauben doch, dass alle Menschen gleich sind, weil alle Menschen von Gott als sein Bild geschaffen sind. Das gilt für jede Hautfarbe und jedes Geschlecht, jede Nationalität und auch jeden Bildungsgrad.  Das gilt auch für Menschen, mit denen man nicht renommieren kann wie mit einer Olympiateilnehmerin.

 

Ich gehöre nicht zu denen, die meinen, man könnte unbegrenzt alle aufnehmen, die zu uns nach Europa kommen wollen. In meiner Stadt Stuttgart gibt es 30% Zugewanderte. Ich sehe, höre und erlebe, wie schwer es manche von ihnen haben und wie schwierig es mit manchen ist. 2016 hat ein Jahr lang eine aus Somalia geflüchtete junge Frau bei mir gelebt. Sie hat Altenpflege gelernt, eine Weile gearbeitet, jetzt hat sie zwei Kinder und verlernt gerade wieder unsere Sprache. Es ist schwer, im fremden Land neu anzufangen. Ohne Hilfe gelingt es kaum jemandem.

 

Aber Menschen, die aus Angst oder Verzweiflung ihre Heimat verlassen, allein lassen?

Ich habe kein Rezept und kein Programm für diese Frage. Trotzdem: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Dieser Satz stammt aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und ist vom Christentum inspiriert. Und er gilt. Oder nicht? Wir alle müssen überlegen, was das bedeutet.

 

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Es gilt das gesprochene Wort.

 


[1] https://www.spiegel.de/sport/olympia/belarus-will-sprinterin-krystsina-tsimanouskaya-offenbar-zur-abreise-zwingen-a-7d41b744-45bf-470a-96ff-480b355ad22c

 

 

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04.08.2021
Lucie Panzer