Schaut hin!

Gedanken zur Woche

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Schaut hin!
14.05.2021 - 06:35
13.05.2021
Martin Vorländer
Über die Sendung

Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Sendung zum Nachlesen:

„Schaut hin!“ So heißt das Motto des Ökumenischen Kirchentags, der morgen in Frankfurt am Main stattfindet – vor allem digital. Schaut hin! Die Kirchen sind oft groß darin, andere aufzufordern, was sie tun oder lassen sollen. Ich meine: Die Kirchen tun gut daran, wenn sie ihr Motto auf sich selbst anwenden: Schaut hin! Schaut, wo es bei euch in den Kirchen im Argen liegt. 
Was die vielen Fälle von sexualisierter Gewalt in den Kirchen betrifft, muss es heißen: Lasst drauf-schauen – von außen! Redet nicht vor allem davon, dass ihr Kirchen alles selbst aufarbeitet. Lasst externe Experten prüfen, warum in den Kirchen sexualisierte Gewalt möglich ist. Beteiligt die Be-troffenen. Wo haben Einzelne ihre Verantwortung nicht wahrgenommen und vertuscht? Wo tragen Strukturen in den Kirchen dazu bei, dass viele eben nicht hin-, sondern wegschauen, wenn Men-schen in der Kirche ihre Macht ausnützen und Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen sexualisierte Gewalt antun. Schaut hin! Ein ernstes Motto des Ökumenischen Kirchentags – an erster Stelle für die Kirchen selbst. 

Schaut hin! Das gilt auch für eines der großen Themen des christlichen Glaubens: Frieden. Anderen Frieden predigen, aber selbst untereinander zerstritten sein – das geht nicht. Die evangelische und die katholische Kirche haben die Chance, miteinander zu praktizieren, wie man verschieden und trotzdem versöhnt sein kann. Das gelingt ihnen bislang nicht beim Abendmahl. Gemeinsames Abendmahl ist offiziell nach wie vor nicht möglich. Der Vatikan verbietet das seinen Gläubigen. Immerhin: Beim Ökumenischen Kirchentag morgen Abend wird es zwar konfessionell getrennte Mahlfeiern geben. Aber die Kirchenleitenden haben alle ermutigt: Folgt eurem Gewissen! Nehmt an der Mahlfeier der anderen Kirche teil, wenn das eurem Glauben entspricht! Das ist ein Mini-Schritt. Aber immerhin. 

Schaut hin! Das Motto des Ökumenischen Kirchentags. „Da schau her! Und sie bewegt sich doch, die Kirche“, habe ich gedacht, als ich diese Nachricht gehört habe. Am Samstag hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland die 25-jährige Anna-Nicole Heinrich zu ihrer Vorsitzenden ge-wählt. „Präses“, so heißt dieses Leitungsamt. Vorher hat es Irmgard Schwaetzer bekleidet, frühere Bundesministerin im Kabinett von Helmut Kohl. Präses der EKD-Synode ist ein renommiertes Amt mit Einfluss und Ausstrahlung. 
Irmgard Schwaetzer ist 79. Ihre Nachfolgerin Anna-Nicole Heinrich 54 Jahre jünger. Das ist mehr als ein Generationenwechsel. Nun ist Jungsein an sich noch kein Qualitätskriterium. Aber Anna-Nicole Heinrich muss die EKD-Synodalen mit ihrer Vorstellungsrede inhaltlich überzeugt haben. Sie wurde gleich im ersten Wahlgang mit 75 von 126 Stimmen gewählt. 

Sie selbst hat spontan nach ihrer Wahl gesagt: „Wie verdammt mutig ist diese Kirche?“ Ihre Biogra-fie passt in keine Schublade: Ihr Vater ist LKW-Fahrer, sie hat Philosophie studiert und macht der-zeit ihren Master in „Digital Humanities“, also in digitalen Geisteswissenschaften. Ihre Familie kommt ursprünglich aus Thüringen und ist atheistisch. Anna-Nicole Heinrich ist in der katholisch geprägten Oberpfalz aufgewachsen und hat sich als Jugendliche evangelisch taufen lassen. 
Sie ist begeistert von der Evangelischen Jugend, und die gilt oft als progressiv. Innerhalb der Syno-de aber gehört sie zum Gesprächskreis „Lebendige Gemeinde“, der als konservativ gilt. Anna-Nicole Heinrich steht quer zu vielen Denkmustern. Und geht voran in Richtung digitale Kirche. Sie lebt und zeigt, wie sich Glaube, Hoffnung, Liebe auf allen Kanälen teilen lässt. 

„#gemeinsamglauben“ heißt der Hashtag, den sie mitinitiiert hat. Ich habe Anna-Nicole Heinrich in einem digitalen Workshop erlebt. Sie ist mir aufgefallen als zupackend, meinungsstark und auf-merksam für die, mit denen sie zu tun hat. Gute Eigenschaften für ihr neues großes Ehrenamt als Präses der EKD-Synode. 
In der Bibel sagt Gott zu einem jungen Mann, den er gerade zum Propheten beruft: „Sage nicht: ‚Ich bin zu jung‘.“ Das muss man Anna-Nicole Heinrich offenbar nicht zweimal sagen. Sie nennt als ihr Ziel: „Als Präses möchte ich für eine hoffnungsvolle, integrierende und pragmatische Kirche stehen, die sich immer wieder neu entdeckt.“ 
Ich wünsche ihr und der Kirche, dass das gelingt. Die Kirche sagt oft: „Wir wollen mehr jüngere Menschen beteiligen.“ Ich freue mich, dass sie es einfach mal getan hat. 

Schaut hin! Wo sollten die Kirchen das tun? Schreiben Sie mir auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.
 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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13.05.2021
Martin Vorländer