Überraschung entwaffnet

Gedanken zur Woche

unsplash.com/Melchior Damu

Überraschung entwaffnet
Gedanken zur Woche mit Pfarrer Martin Vorländer
13.12.2019 - 06:35
18.07.2019
Martin Vorländer
Über die Sendung

Friedensnobelpreis für Abiy Ahmed, Premierminister von Äthiopien. Das ist umstritten – zu Recht. Aber auch Friedensnobelpreisträger sind keine Heiligen. Pfr. Martin Vorländer mit den Gedanken zur Woche, warum Abiy Ahmed den Friedensnobelpreis 2019 zu Recht bekommen hat.

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Soldaten in schwarzen Stiefeln, Militäranzug und roter Barett-Mütze auf dem Kopf machen Liegestütze. Vor ihnen am Boden ein Mann in weißem Hemd und grauer Stoffhose, er macht die Liegestütze mit. Die Soldaten grinsen breit. Das ist kein Spaß. Die Situation ist explosiv. Denn ursprünglich wollten die Soldaten putschen gegen den Mann im weißen Hemd. Der ist ihr Premierminister, und sie wollen mehr Lohn. Deshalb sind sie bewaffnet vor seinen Amtssitz gezogen. Der Premierminister droht ihnen erst. Er sagt: So geht es nicht. Wir können über eure Forderungen reden. Aber nicht bewaffnet. So, und jetzt macht ihr Liegestütze. Was die Soldaten dann erleben, hat sie überrascht. Der Premierminister wirft sich vor ihnen in den Staub und macht die Liegestütze mit. Damit hat er die unzufriedenen Soldaten gewonnen. Sie legen ihre Waffen nieder. (1)

Das ist passiert vor einem Jahr in der Hauptstadt von Äthiopien. Der Premierminister heißt Abiy Ahmed. Am Dienstag bekam er den Friedensnobelpreis in Oslo überreicht. Der 43-Jährige ist ein Hoffnungsträger Afrikas. Er ist erst seit eineinhalb Jahren Regierungschef in Äthiopien. Er hat in dieser kurzen Zeit den jahrzehntelangen Krieg mit dem Nachbarland Eritrea beendet. Er hat den früheren Erzfeind, seinen eritreischen Präsidentenkollegen, umarmt und Frieden geschlossen.

Seinen Stil nennt der Friedensnobelpreisträger „zusammenbringen“. Das wird er schon in seiner Familie gelernt haben: Unterschiede zusammenbringen. Sein Vater ist Muslim, seine Mutter Christin.

 

Trotzdem gibt es Kritik am Friedensnobelpreis für den jungen Premier Äthiopiens. Das Komitee hat das vorausgesehen und gesagt: „Einige werden denken: Die diesjährige Auszeichnung wird zu früh verliehen.“

 

Den Einwand verstehe ich. Denn Frieden schließen ist das eine. Aber deswegen ist der Frieden noch nicht da. Die Feindschaft zwischen Äthiopien und Eritrea ist nicht auf einmal weg. Und es gibt nach wie vor jede Menge Probleme in den beiden Ländern. Gerade erst im Oktober sind bei regierungskritischen Protesten in Äthiopien mehr als 60 Menschen gestorben. (2) Wer weiß, ob der Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed seinen Kurs hin zu Frieden und Versöhnung durchhält?

 

Wer erwartet, dass Friedensnobelpreisträger Heilige sind, wird tatsächlich enttäuscht. Auch der Diesjährige ist kein Übermensch. Er wird Fehler machen – wie jeder Mensch. Trotzdem bin ich von ihm beeindruckt. Auf seinen Feind zugehen, das muss man erst mal schaffen. Wie schwer das ist, weiß jede und jeder schon aus den Konflikten, die man im eigenen Leben hat. Mich beeindruckt auch seine Aktion mit den Liegestützen. Bewaffnete Soldaten stehen mit ihren Forderungen vor ihm. Die Situation hätte in einem Blutvergießen enden können. Abiy Ahmed, der Mann, gegen den die Soldaten putschen wollen, dreht die Lage um. Droht nicht mehr mit markigen Worten, sondern geht auf die Soldaten ein. Und macht die Liegestütze, zu denen er sie aufgefordert hat, selbst mit, begibt sich auf Augenhöhe. Damit hat er das Überraschungsmoment auf seiner Seite.

 

Nicht zurückschlagen, sondern den Gegner überraschen, so hat das Jesus gepredigt. Jesus sagte: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dann halt ihm die anderen auch hin.“ (3) Damit rechnet der Angreifer nämlich nicht. Angreifer erwarten einen Gegenschlag und nicht die Geste: Schau! Du kannst weiter zuschlagen. Aber willst du das? Überraschung kann entwaffnen.

Dafür braucht es Mut. Den hat Abiy Ahmed bewiesen. Mut zum Frieden. Ich weiß nicht, ob ich den immer aufbringen kann. Aber das Beispiel von Abiy Ahmed und seinen Liegestützen machen mir Mut. Mut zum Frieden – das ist, finde ich, den Nobelpreis wert.

 

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(1) https://www.spiegel.de/politik/ausland/friedensnobelpreis-fuer-abiy-ahmed-aethiopiens-premier-war-erst-nur-notloesung-a-1291100.html

https://de.nachrichten.yahoo.com/meuternde-soldaten-athiopischer-premier-entscharft-situation-mit-liegestutzen-150757051.html

(2) https://www.spiegel.de/politik/ausland/aethiopien-dutzende-tote-bei-protesten-in-oromia-region-und-addis-abeba-a-1293481.html

(3) Matthäus 5,39

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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18.07.2019
Martin Vorländer