Der Mai ist gekommen

Morgenandacht
Der Mai ist gekommen
02.05.2020 - 06:35
30.01.2020
Thomas Dörken-Kucharz
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„Geh‘ aus, mein Herz, und suche Freud‘ in dieser schönen Sommerzeit…“

So weit sind wir noch nicht. Ausgehen ist nicht und Sommer auch nicht. Jetzt müsste gelten: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus!“ Ja, es ist tatsächlich Mai. Nur das mit den erst im Mai ausschlagenden Bäumen, das war vor dem Klimawandel, nehme ich an. 1841 stimmte es wahrscheinlich noch. Damals nämlich dichtete Emanuel Geibel diese Verse auf seiner Wanderung von Lübeck nach Schloss Escheberg in Nordhessen. Heutzutage schlagen die Bäume eher Anfang bis Mitte April aus. In diesem Jahr habe ich in Frankfurt das erste Grün an Bäumen schon im März entdeckt.

Geibels Lied geht weiter: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus, da bleibe wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus.“ Gemeint hat er es anders, nämlich dass kein Mensch dem Frühling widerstehen kann und zuhause bleiben will. Den Dichter zieht es ja auch hinaus „in die weite, weite Welt“. Aber wörtlich steht es so da, als wäre es heute, als wäre Coronakrise: Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zuhaus‘. Genau. Lust haben alle hinaus zu gehen, endlich wieder etwas zu unternehmen. Sorgen haben auch alle und zuhause bleiben ist weiterhin angesagt. Auch wenn sich manches lockert. Die Unbeschwertheit des Frühlings, die des Wonnemonats gar, die ist nicht, die kann nicht sein, aus guten Gründen.

Immerhin ist der Dichter über die sechs Strophen seines Gedichtes allein unterwegs. Nur einmal, in der vierten Strophe, bittet er im Wirtshaus den Spielmann, die Fiedel zu ergreifen und er singt von seiner Liebsten. Sonst küsst ihn morgens nur das Morgenrot wach, wenn er denn unter freiem Himmel geschlafen hat. Und weiter geht’s.

Und auch wenn er Corona noch nicht kannte: vielleicht hat er doch in seinem bekannten Volkslied ein gutes Rezept für den Umgang mit der Krise überliefert. Hinaus in die Natur, Laufen, Wandern. Für mich jedenfalls ist seit Anfang März der tägliche Spaziergang unverzichtbar geworden. Ein Ausgleich zu Quarantäne, Homeoffice und schweren Gedanken. Ob man die Bäume dabei gleich umarmen muss? Kann man machen, aber Vorsicht, sie schlagen immer noch aus! Mir ist – in Frankfurt – auch der Main wichtiger als vorher geworden. Ein großer Fluss, an dem kann ich den Strom des Lebens spüren.

 

O Wandern, o wandern, du freie Burschenlust!

Da weht Gottes Odem so frisch in die Brust,

da singet und jauchzet das Herz zum Himmelszelt:

wie bist du doch so schön, du weite, weite Welt!

 

So lautet die 6. Strophe von Geibels Lied. Die Burschenlust lasse ich jetzt mal im 19. Jahrhundert, das wäre ein Thema für sich. Aber Wandern, auch Radwandern, hierzulande - das könnte vielleicht das Urlaubsrezept 2020 sein. Und das wäre ein Gewinn. Denn das Tempo beim Wandern ist dem Menschen angemessen. Die Eindrücke sind viel intensiver und bleibender als bei den motorisierten Fortbewegungsmitteln.

Geibel ist zwar schwärmerisch in seinem Gedicht, aber er weiß, wovon er redet. Und er geht noch einen Schritt weiter: Beim Wandern kann man Gottes Odem frisch in der Brust spüren. Gottes Odem war es, der in der Schöpfungsgeschichte aus dem Klumpen Erde Adam, den ersten Menschen machte. Ohne Gottes Odem wäre der Mensch ein Lehmklumpen, tote Materie. Diesen Lebensatem Gottes neu zu spüren, das habe ich gerade jetzt besonders nötig.

An manchen Stellen ähneln sich Geibels Gedicht und der Psalm 23. Auch der beschreibt eine Wanderung, sowohl Gottes Mitwandern als auch sein Umsorgen. „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal“, heißt es im Psalm, „fürchte ich kein Unglück, dein Stecken und Stab, Gott, trösten mich“. Und selbst, wenn ich eines Tages meine letzte Wanderung gemacht haben sollte – dann habe ich mein Leben bei Gott noch vor mir, „ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

30.01.2020
Thomas Dörken-Kucharz