Du und ich, ich und du – Psalm 139 als Vertrauensgebet

Morgenandacht
Du und ich, ich und du – Psalm 139 als Vertrauensgebet
04.08.2020 - 06:35
16.07.2020
Anja Neu-Illg
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„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“
Psalm 139. Für mich das schönste Gebet der Bibel. Hier wird eine Beziehung geklärt.
Du. So kann ich Gott anreden. Als eine Person, eine Person mit Geist, Angesicht, Hand, Augen, einem Buch und Gedanken. Die alten Worte setzen mich in ein Verhältnis zu Gott, sagen: Ja, so ist das zwischen uns.

Du und ich, ich und du, du und ich.     
Du erforschst mich und du kennst mich.“ (Vers1)
„Wohin soll ich fliehen vor deinem Geist?“ (Vers 7)
Du hast mein Innerstes geschaffen.“ (Vers 13)

Du kennst meine Gedanken von fern (Vers 2)
während mir deine Gedanken zu schwer und ihre Summe zu groß ist. (Vers 17)

Es sind Worte des Vertrauens in Gott, in allem gegenwärtig:
„HERR, du erforschst mich und kennst mich.
Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.“

Gott hat mit dem echten Leben zu tun. Mit den äußersten Enden und mit allem, was dazwischen liegt. Zwischen Sitzen und Stehen – der Schlaf; zwischen Liegen und Gehen – die Aktionen des Tages.

Ich und du – „Wohin soll ich fliehen vor deinem Geist?“ (Vers 7)
Gott ist da in allen Dimensionen des Raumes und der Zeit und des Lichtes:

„Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –,
so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir,
und die Nacht leuchtete wie der Tag.“

Einen gottfernen Ort gibt es nicht.
Nicht im fernen Westen und auch nicht auf der Rückseite des Ostens. „Wohin soll ich fliehen?“ findet eine Antwort. Sie lautet: nirgendwo hin. Das kann bedrückend sein. Aber ein barmherziger Gott lässt mich Aufatmen: Du bist ja da.

Noch hat mein Gebet um nichts gebeten.
Es hat erst einmal gesagt: Ja, so ist das zwischen uns: Du und ich, ich und du.
Du kennst mich, du bist überall, du hast mich geschaffen.
Erst jetzt eine Bitte. Und ihre Worte erschrecken mich:

„Ach, Gott, wolltest du doch den Frevler töten! Dass doch die Blutgierigen von mir wichen! … Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben?“

Töten, Blut, Feinde, Hass, Abscheu – Eine poetische Vollbremsung. Aus Liederbüchern und Gottesdiensten gestrichen, um nicht mitten im Gebet eine Bildstörung zu erzeugen.

Hier werden die Probleme auf den Tisch gepackt und auch gleich die gewünschte Lösung präsentiert. Gott soll sie verschwinden lassen, töten. Sind Gottes Feinde nun auch meine eigenen? Oder sind es meine Feinde, die ich als Feinde Gottes bezeichne? Von ganzem Herzen hasse?

Doch nicht die Beter des Psalms ziehen in die Schlacht. Die Bitte um den Tod der Feinde verhindert geradezu, dass wir selbst zu Mördern werden. Das Gebet überlässt die Sache Gott, sein ist die Rache. Dieser Bruch in der Poesie ist die Erlaubnis, alles Menschliche, auch das Unangenehme, das Gebrochene und Unerwünschte mit ins Gebet hineinzunehmen. Denn es wird ja gehasst, verabscheut und angefeindet – überall, wo es Menschen gibt. Irgendwo muss es ja raus. Das Gebet ist jedenfalls ein besserer Ort dafür als Facebook oder die Straße.

Als Betende bin ich ja auch selbst nicht so sicher. Ich überlasse Gott das Urteil, nicht nur über meine Feinde, sondern auch über mich.

Am Ende bitte ich darum, selbst zu erleben, was ich schon im ersten Vers glaube: „Herr, du erforschst mich und kennst mich.“ (Vers 1)

„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“ (Vers 23.24)

Amen.

16.07.2020
Anja Neu-Illg