Sendung nachlesen:
Solange sie singen, ist die Kirche nicht aus. Das war ein Merksatz, als meine Eltern noch klein waren für die Kinder, die auf das Ende des Gottesdienstes warten. Aber der Merksatz gilt nicht mehr in diesen Corona Zeiten. Solange sie singen, ist die Kirche nicht aus. Nun ist das unsicher geworden. Ebenso, wie das Amen in der Kirche.
Heute ist der Sonntag "Kantate", das heißt übersetzt: Singt! Abgeleitet vom Psalm 98, Vers 1:
"Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!" Aber die Kirche singt nicht. Die Gemeinden singen heute nicht. Gemeinsamer Gemeindegesang steht gerade für alles, was nicht das Gebot der Stunde ist: Mit vielen Menschen über lange Zeit in einem Raum verbringen und dabei tief ein und lang wieder ausatmen. Wir sind eine kleine Baptistengemeinde in Rostock. Und obwohl die Inzidenzen in unsrer Stadt über lange Strecken sehr gut aussahen, haben wir im zurückliegenden Jahr häufig auf Präsenzgottesdienste verzichtet; und wo sie doch möglich waren, nur mit Anmeldung, Obergrenze bei den Teilnehmerzahlen, Teilnehmerlisten, Händedesinfektion, Abstand, Maske und - ohne Singen.
Wir können nachvollziehen, warum wir gebeten sind, auf das Singen zu verzichten. Und weil wir unbedingt diese Pandemie mit allen zusammen bekämpfen und beenden möchten, halten wir uns an die Regeln und reizen die Grenzen des Erlaubten nicht aus.
Und wir vermissen es. Das Singen. Den Gottesdienst. Sehr heftig.
Psalm 42 ist gerade unserer:
Daran will ich denken und mich in meiner Seele erinnern,
dass ich einherging in dichtem Gedränge,
mit ihnen ging zum Haus Gottes mit lautem Jubel und Dank
in feiernder Menge.
Was bist du so gebeugt,
meine Seele, und so unruhig in mir?
Harre auf Gott,
denn ich werde ihn wieder preisen,
ihn, meine Hilfe und meinen Gott. (Psalm 42,5.6)
Wir sind eine Gemeinde mit großer Chortradition und vielen Freunden des mehrstimmigen Gesangs. Und wenn wir könnten, dann würden wir uns sehr gern versammeln und z.B. dieses Lied singen:
In Christ alone my hope is found
He is my light, my strength, my song
This cornerstone, this solid ground
Firm through the fiercest drought and storm
What heights of love, what depths of peace
When fears are stilled, when strivings cease
My comforter, my all in all
Here, in the love of Christ, I stand
In Christus ist mein ganzer Halt.
Er ist mein Licht, mein Heil, mein Lied,
der Eckstein und der feste Grund,
sicherer Halt in Sturm und Wind.
Wer liebt wie er, stillt meine Angst,
bringt Frieden mir mitten im Kampf?
[Mein Trost ist er in allem Leid.
In seiner Liebe find ich Halt.
Musik 3: In Christus ist mein ganzer Halt
In diesem Lied kommt viel von dem zusammen, was uns als Gemeinde ausmacht: Mehrstimmiger Gesang, Jesus Christus im Mittelpunkt - sein Leben, sein Sterben und seine Auferstehung für uns. Und das Lied ist im Stil eines alten Hymnus aus dem angelsächsischen Raum komponiert und so erinnert dieses Lied an die Wurzeln unserer baptistischen Bewegung im England des 17. Jahrhunderts. Wir vermissen den gemeinsamen Gesang. Und natürlich lassen sich unsere Musikerinnen und Musiker trotzdem etwas einfallen. Wo es möglich war, haben sich kleine Bläserensembles auf Balkone gestellt und die Nachbarschaft mit einem Lied erfreut.
Gemeindemitglieder haben sich zu Hause vor ihre Kamera gesetzt und ein Stück mit ihrem Instrument oder Gesang aufgenommen als Beitrag für Wohnzimmergottesdienste, die wir als Video zugänglich gemacht haben. Es wurden neue Lieder komponiert, und durch moderne Technik entstanden große überregionale Video-Chöre, bei denen jeder Sänger und jede Sängerin von zu Hause aus gesungen hat.
Es wurden neue Lieder gesungen und alte neu arrangiert. Solistischer Gesang war hier und da möglich und plötzlich kam es an auf die Solisten, weil sie anstelle der Gemeinde sangen und die Kirchenräume füllten. Hier ein Beispiel aus der ev.-luth. Innenstadt Gemeinde Rostock:
Ich habe mich zu Hause mit 24-stimmiger Chormusik entspannt und mich dabei gefragt, ob die Chöre wohl noch singen können, wenn sie wieder dürfen.
Psalm 91,1.2
Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt
und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,
der spricht zu dem HERRN:
Meine Zuversicht und meine Burg,
mein Gott, auf den ich hoffe.
Musik hören zu Hause. Alles sehr schön, aber kein Ersatz für den gemeinsam gefeierten Gottesdienst. Kein Ersatz für gemeinsamen Gesang. Ich vermisse es. Wir vermissen es. Dass die Sonntage sich klar vom Alltag unterscheiden. Ich vermisse den absichtslosen und konsumfreien Raum des Gottesdienstes. Ich vermisse die physische Präsenz der anderen. Ich vermisse es, dass wir uns im Gottesdienst gegenseitig den Glauben und das Leben stärken. Ich vermisse den sich erhebenden Gesang, der auch innerlich aufrichtet und aufbaut. Ich vermisse das kollektive Von-sich-selber-Absehen und das gemeinsame Sich-Verlieren in der Güte und Größe Gottes. Durch den gemeinsamen Gesang bekommt das Lob Gottes viel mehr Kraft und Intensität. Das entsteht zu Hause so nicht.
Warum ist uns das überhaupt so wichtig? Gott loben? Das Lob Gottes ist ja kein Urteil über den Zustand der Welt. Wir loben Gott nicht, wie man Kinder lobt: Das hast du aber gut gemacht. Wir loben ihn, weil Gott Gott ist. Heilig. Gerecht. Mächtig. Und groß. Größer als wir und größer als, das, was wir verstehen.
Unbegreiflich für mich bist du, mein Herr
Denn dein Wesen ist viel tiefer als unser tiefstes Meer
Deine Schönheit grandios, staunend stehe ich vor dir
Du bist größer als mein Groß und das mag ich an dir
Größer als Wissen, größer als Stolz - als alles was ich weiß
Größer als Angst, größer als Ich, du bist mein Gott, ich ehre dich
Gott ist größer als das, was wir begreifen können. Im gesungenen Gotteslob erkennen wir die Größenverhältnisse an. Und wir vertrauen uns dem an, der uns geschaffen hat und alles, was lebt. Nicht immer ist einem nach Singen und Loben zumute. Jeder hat seine Momente in dieser Pandemie, wo er nur noch fragt: Wie lange noch? Ein Großteil der biblischen Psalmen sind Klagelieder. Ich finde: Die Sportfreunde Stiller fassen ganz gut zusammen, was viele dieser Psalmen fragen:
Wie lange sollen wir noch warten
Bis wieder bess're Zeiten starten?
Wie viel Zeit soll noch vergehen
Bis wir uns wiedersehen?
Wie lange sollen wir noch warten
Bis wieder bess're Zeiten starten?
Wie viel Zeit soll noch vergehen
Bis wir uns wiedersehen?
Wie lange noch?
Die Klage der Menschen, die darauf warten Freunde und Familie wieder zu treffen. Die festsitzen in Homeoffice, Homeschooling und hinter FFP2-Masken vereinsamen.
Aber die Klage derer, die Angehörige verloren haben, Gesundheit eingebüßt und die wirtschaftlich vor dem Nichts stehen, ringt weiter nach Worten und findet oft noch keine.
Kantate. Millionen Menschen wären heute in Deutschland Besucherinnen und Besucher eines Gottesdienstes. Und sie würden singen zu Gottes Ehre. Alte und neue Lieder. Für die meisten Deutschen ist es aber egal, ob Gottesdienste stattfinden oder nicht. Ob gesungen wird oder nicht. Ob Gott gelobt wird oder nicht. Für die meisten macht das einfach keinen Unterschied. Und selbst Gott ist offenbar kein treuer Gottesdienstbesucher:
"Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach."
(Amos 5,23.24)
Das lässt Gott durch den Propheten Amos ausrichten.Der stand vor 2800 Jahren im Wüstensand und sprach von einem Strom aus Gerechtigkeit, der die Wüste zum Blühen bringen soll.
Nicht jeder Gottesdienst gefällt Gott.
Besonders dann nicht, wenn das Lebenslied der Gemeinde etwas ganz anderes singt als die Lieder im Gottesdienst. Gerechtigkeit und Recht sollen aus den Gottesdiensten herausfließen. Da geht es nicht um Law and Order, um die Korrektheit von Beamten oder um juristisch einwandfreie Gerichtsurteile. Dass Gerechtigkeit und Recht strömen soll, das bedeutet: Menschen in ihrem Menschsein gerecht werden. Es geht um ein Handeln, das die Familie Mensch fördert und die Armen nicht zurücklässt.
Recht und Gerechtigkeit sind Eigenschaften Gottes. Recht, mischpath, ist nicht einfach formal-neutrale Rechtsprechung. Das Recht stellt gestörten Frieden wieder her. Gestörten Schalom. Gerechtigkeit, Zedekia, meint Gemeinschaftstreue, Gottes Treue zum Geschaffenen; ein Raum, in dem es unmöglich ist, dass einer einen anderen besitzt. Wenn Amos also von Recht und Wasser und Gerechtigkeit und einem nie versiegenden Bach spricht, dann redet er von der Art, wie Gott sich verschenkt und verströmt. Er beschreibt ein Kraftfeld, das da entsteht, wo Gott den Menschen heilsam nahe kommt, Frieden wieder herstellt, aus Sklaverei befreit. Dieses Kraftfeld ist schon da. Der Strom aus Recht und Gerechtigkeit ist schon da. Die Gemeinde soll ihn nur nicht aufhalten.
Man könnte auch übersetzen: Wenn ihr mit eurem Gesang nur euch selbst meint und euch selbst beabsichtigt, dann will ich euer Lied nicht hören. Das Lebenslied der christlichen Gemeinden und der Christen soll Gott gesungen sein. In dem Bild vom Strom des Rechts und der Gerechtigkeit ist eine Quelle gedacht - mitten im Gottesdienst, die sprudelt und fließt und dieser Fluss wird aufgehalten, so dass Gerechtigkeit versickert und verfault. Der Fluss wird nicht dadurch aufgehalten, dass keine Gottesdienste gefeiert werden. Sondern weil das Lebenslied nichts zu tun hat mit den Liedern im Gottesdienst.
Wir können nicht im Gottesdienst vom guten und herrlichen und barmherzigen Gott singen, der die Menschen sieht, und unser Lebenslied ist doch nur die alte Leier vom Kaufen und Verkaufen von Dingen und Menschen, vom sich unbedingt durchsetzen, vom Vordrängeln und von dem Ich, dass keine Absicht kennt als nur sich selbst.
Das Lebenslied soll nicht von etwas ganz anderem singen als das Lied im Gottesdienst. Das Leben soll durchlässig werden für Gottes Gerechtigkeit.
Die Bibel ist zwar voll mit Liedern, Hymnen und Aufforderungen zum Lob Gottes. Ob der Gottesdienst aber auch Gott gefällt? Hängt davon ab, ob auch das Lebenslied ihm gesungen ist.
Viele Kirchengemeinden landauf landab wollen durchlässiger werden für die Gerechtigkeit Gottes, die aus ihren Gottesdiensten in die Umgebung strömen möchte. Zu ihnen gehören auch Baptistengemeinden. Da gibt es zum Beispiel die Gemeinde in Berlin-Charlottenburg: Die verteilt in diesen Tagen 17 Europaletten mit Masken und Test-Kits an 157 Kitas im Stadtteil im Auftrag des Bezirks und entlastet so die Mitarbeitenden in der Verwaltung. Oder da ist die Baptistengemeinde in Kassel West, die online Sprachkurse für Migranten anbietet. Oder da ist die Gemeinde in Esslingen, die Spielräume für Familien in ihren Räumen eingerichtet hat, mit Kicker, Lego und Tischtennis. Für Familien, denen im Lockdown die Decke auf den Kopf fällt und die mal raus müssen. Viele Baptistengemeinden betreiben Suppenküchen oder sind an der Lebensmittelausgabe der Tafeln beteiligt. In einer Gemeinde ist es gerade nicht möglich, in der Suppenküche selbst zu kochen. So bezahlt die Gemeinde einen ortsansässigen Metzger, der für die Suppenküche kocht, und kann die Essensausgabe offen halten. Und es gibt Gemeinden, die Corona-Testzentren in ihren Räumen haben, etwa in Tübingen. Auch wir hier in Rostock haben in den letzten 100 Jahren unseres Bestehens immer wieder Wege gefunden, auf die Nöte und Herausforderungen in unserem Umfeld zu reagieren. Schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte die Gemeinde eine Armenkasse. Nach 2015 wurde ein Kirchenasyl eingerichtet. Und im Moment fragen wir uns wieder, wie wir für unser Umfeld nützlich sein könnten.Vielleicht tröpfelt die Gerechtigkeit zuerst nur. Aber wenn es an vielen Stellen tröpfelt, entsteht ein nie versiegender Bach, sagt die Hoffnung. Ein Strom, der die Wüste zum Blühen bringt.
Um diesen Fluss am Fließen zu halten, brauchen wir Kraft. Kraft, die wir aus dem Lob Gottes bekommen. Jetzt singen wir unser Lob im Wald, am Meer, unter der Dusche oder in der Küche, auf jeden Fall allein. Wir überlegen aber schon, welches Lied wir wohl zuerst singen werden, wenn es wieder geht. Ich schwanke. Zwischen einem Popsong und einem Choral. Beide Lieder sind eine Aufforderung der Seele an sich selbst, Gott zu loben.
Was heut vor mir liegt
und was immer auch geschehen mag
Lass mich noch singen
wenn der Abend kommt
Whatever may pass
And whatever lies before me
Let me be singing
When the evening comes
Bless the Lord oh my soul
Oh my soul
Worship His Holy name
Sing like never before
Oh my soul
I'll worship Your Holy name
Es wird ein Strom aus Gerechtigkeit aus der Mitte der Kirchen fließen.
Und wenn nicht, dann haben wir aufgehört, wir selbst zu sein.
Und dann ist es egal, ob wir singen.
Was wird unser erstes Lied sein nach langer Zeit?
Wahrscheinlich doch ein klassischer Choral:
Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren,
meine geliebete Seele, das ist mein Begehren.
Kommet zuhauf, Psalter und Harfe, wacht auf,
lasset den Lobgesang hören
und
sehen!
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Genesis Brass, "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" (Fantasie), CD-Titel: Choralfantasien, Bearbeitung für Bleckbläser
- The ZOE Group, "In Christ Alone", CD-Titel: In Christ Alone
- Rebecca Watta, "In Christus", CD-Titel: Feiert Jesus, Er lebt, 12 Lieder zu Kreuz und Auferstehung
- Genesis Brass, "In dir ist Freude", CD-Titel: Choralfantasien, Bearbeitung für Blechbläser
- Jan Primke & Friends, "Dich schickt der Himmel", CD-Titel: Neue Lieder für unsere Gottesdienste Vol. 3
- Mandy Bruhn, David Schulz, Benjamin Jäger, "Nun lieb Seel, nun ist es Zeit", Private Aufnahme: Benjamin Jäger (Kantor)
- Huelgas Ensemble, Paul von Nebel, "qui habitat á 24", CD-Titel: 40 voix/ 40 voices
- Jonnes, Mishka Makova, "Größer", CD-Titel: Unfassbar nah
- Sportfreunde Stiller, "Wie lange sollen wir noch warten", CD-Titel: Die gute Seite
- David Orlowskys Klezmorim, "Klage", CD-Titel: Panta rhei
- Casting Crowns, "Lifesong", CD-Titel: Lifesong
- Matt Redmann, "100000 Reasons (Bless the Lord) Radio Version", CD-Titel: Sink like never beofre, the essential collection
- Genesis Brass, "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" (Choral), CD-Titel: Choralfantasien, Bearbeitung für Bleckbläser