Morgenandacht
Gemeinfrei via Unsplash/ Ryan Hutton
Sinn fürs Unendliche
Morgenandacht von Pfarrer Martin Vorländer
08.11.2023 04:35

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Die Sendung zum Nachlesen: 

Die Sonne geht zur Zeit im Rhein-Main-Gebiet, wo ich wohne, erst gegen halb acht Uhr auf. Dadurch ist es beim Morgenspaziergang mit meinem Hund noch dunkel, und ich kann ein paar Sterne sehen, wenn es nicht gerade novembernebelig oder wolkenverhangen ist. Der Sternenhimmel ist jedes Mal eine Sensation. Unendliche Weiten. Mein Hund und ich, wir stehen und staunen. Er über das Universum an Gerüchen. Meine Augen wandern zwischen den Leuchtpunkten am Firmament und suchen nach den Linien, die ein Sternbild ergeben.

Man fühlt sich klein und groß zugleich. Klein, weil der Blick in den Himmel spüren lässt, wie winzig unser Planet Erde ist und erst recht ich selbst angesichts des Alls. Man fühlt sich groß, weil man ein Teil dieses großen Ganzen sein darf. Das Gefühl, das einen beim Blick in den Himmel ergreift, nannte der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher Ehrfurcht. Sie macht für ihn das Wesen der Religion aus.

Schleiermacher hat geschrieben: Es sind „himmlische Funken“, die entstehen, „wenn eine heilige Seele vom Universum berührt wird“. (1) Große Worte für meine kleine Morgenrunde mit dem Hund. Aber darum geht es doch: die alltäglichen Augenblicke des Staunens nicht geringzuschätzen.

Religion besteht für Schleiermacher nicht darin, dass man starre Lehrgebäude aus Dogmen errichtet. Es kommt auch nicht darauf an, sich an heilige Gebote zu halten und möglichst moralisch zu leben. Religion ist vielmehr „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“.

Es ist eine kleine spitze Bemerkung, die Schleiermacher dazu gebracht hat, sein Verständnis von Religion zu formulieren. Wir schreiben das Jahr 1796. Schleiermacher, noch keine 30 Jahre alt, ist Prediger an der Charité in Berlin geworden. Er bekommt eine Einladung, auf der steht: „Ich habe den Auftrag, Sie zu befragen, ob Sie morgen zum Tee und Abendessen bei Professor Herz sich einfinden können? Hoffentlich werden Sie keine Abhaltung haben.“

Das ist Schleiermachers Eintrittskarte in den literarischen Salon der Henriette Herz. Die junge Ehefrau des Professor Herz versammelt in ihrem Haus Künstler, Literatinnen und Philosophen. Sie stammt aus einer portugiesisch-jüdischen Familie und wird zu Schleiermachers Seelenfreundin. In ihrem Berliner Salon befreundet er sich mit Friedrich Schlegel, dem Vordenker der Frühromantik. Der stachelt ihn an mit der Bemerkung, Schleiermacher habe mit seinen bald 30 Jahren noch nichts Rechtes geleistet.

Der Satz sitzt. Innerhalb eines halben Jahres schreibt Schleiermacher sein erstes großes Werk, das zu einem Jahrhundertbuch wird: Seine „Reden über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Schleiermacher hält sich einerseits an den Kernsatz der Aufklärung von Immanuel Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Schleiermacher hat Mut und denkt die christliche Religion neu als „vernünftigen Glauben“.

Die Aufklärung ist ihm andererseits zu vernunftbesessen. Für Schleiermacher ist Religion nicht bloße Kopfsache. Sie pflegt den Sinn für das Geheimnisvolle in der Welt. Er schreibt: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“

Anschauung. Das meint: Wahrnehmen, dass alles mit allem verbunden ist. Das Verbindende ist stärker als das, was trennt. Gefühl. Darunter versteht Schleiermacher die Erkenntnis, „dass wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, (...) als in Beziehung mit Gott bewusst werden“.

Sein Rivale, der Philosoph Hegel spottete: Dann ist der Hund der beste Christ, weil er das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit am meisten in sich trägt. Aber Schleiermacher geht es um das Bewusstsein: Ich bin endlich und trotzdem ein Teil des Unendlichen. Das macht empfänglich dafür, dass alles Sein zusammengehört.

So gestärkt in unserem Sein und in unserer Zugehörigkeit zum All traben mein Hund und ich auf unserer Morgenrunde in den neuen Tag hinein.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

 

Literatur dieser Sendung:

1) Zitate aus: Friedrich Daniel Ernst Schleiermache, Reden über Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern