Tiefer gehen

Morgenandacht
Tiefer gehen
04.03.2020 - 06:35
30.01.2020
Stephanie Brall
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Der Frühling steht vor der Tür.

Die Samenkörner, die ich in diesen Tagen

in die Töpfe auf meiner Fensterbank gesät habe,

führen mich in die Tiefe.

Ich frage mich:

Was machen diese Samenkörner in der Erde,

in die sie so tief gefallen sind?

 

Und ich finde heraus:

Der erste Teil, der aus dem Samenkorn hervorkommt,

festigt den Keimling in der Tiefe,

damit die Pflanze bei einem Sturm nicht fortweht.

Von dort breiten sich nach und nach

weitere Wurzelteile aus.

Sie versorgen den Keimling

mit Wasser und Nährstoffen.

Dass er wachsen kann,

in die Tiefe, in die Weite

und über sich hinaus.

 

Ich denke an einen,

der in diese Tiefen seines Lebens vorgedrungen ist

und von dorther herausfand,

wie er leben möchte.

 

Einst war er der feine Herr aus gutem Hause gewesen.

Geschäftstüchtiger Tuchhändlersohn.

Stadtbekannt und stets im Mittelpunkt.

Ein mutiger Krieger.

Doch dann gerät er in Gefangenschaft -

da ist er Anfang zwanzig.

Krank kommt er zurück.

 

In seiner Seele wird es Nacht.

Er sinkt auf den dunklen Grund des Lebens.

Jahre der inneren Wandlung

folgen, in denen er wieder und wieder

die Liebe nach sich rufen hört.

 

Einmal geschieht das, als er in der kleinen,

halb zerfallenen Kirche San Damiano meditiert:

„Geh und bau mein Haus wieder auf ...“,

hört er jemanden sagen

und fängt daraufhin an,

verfallene Kapellen zu reparieren.

 

Ein anderes Mal begegnet er einem Aussätzigen.

Früher hätte er ihn gemieden,

hätte Angst gehabt, sich anzustecken.

Diesmal sieht er sein Gesicht,

sein Herz, den Menschen.

Und er kann nicht anders,

als von seinem Pferd zu steigen

und ihn zu umarmen.

 

In der Umarmung weicht die Angst,

wird er selbst zum Menschen.

Sein Name ist:

Franz von Assisi.

 

Es sind diese Jahre,

in denen sich alles wendet für ihn.

In denen er sein altes Leben auszieht,

die teuren Kleider seinem Vater vor die Füße wirft

und von seiner Suche nach dem Vater im Himmel spricht.

Er verkauft sein Pferd und alle seine Besitztümer

auf dem Marktplatz seines Heimatortes.

 

Sie lachen über ihn. Erklären ihn für verrückt.

Andere folgen ihm.

Darunter ein Geschäftsmann, ein Jurist, ein Landwirt.

Sie nennen sich die „Minderbrüder“.

Aus ihnen würden einmal die „Franziskaner“ hervorgehen.

 

Sie besitzen nichts.

Deswegen müssen sie sich

auch nicht absichern

und nichts verteidigen.

Es sind ihre Herzen,

ungeschützt und offen,

die ihnen zum Markenzeichen werden.

 

Einmal versetzt ein Wolf eine ganze Stadt in Angst und Schrecken.

Franz von Assisi geht ihm entgegen.

Er nennt ihn Bruder, verspricht, für ihn zu sorgen und zähmt ihn.

Die Menschen der Stadt machen mit,

nach und nach, und versorgen das Tier reihum.

Noch zwei Jahre lebt der Wolf friedlich weiter,

bis er an Altersschwäche stirbt.

 

Als der Papst im Heiligen Land gegen

die Muslime in den Krieg zieht,

macht Franz von Assisi sich auf die lange,

beschwerliche Reise dorthin -

um den Dialog zu suchen.

Unbewaffnet und ohne zu

wissen, was ihn erwartet.

 

Sultan al-Kamil empfängt ihn,

sie kommen ins Gespräch.

Fruchtbar soll es gewesen sein,

ihr Miteinander.

Wie mutig. Von ihnen beiden.

 

Heute vor einem Jahr

wurde in Ägypten

an dieses Treffen vor 800 Jahren erinnert.

Heute denke ich einmal mehr daran,

dass damals zwei in den Dialog gingen,

ohne all die Hilfsmittel,

die fürs Kommunizieren und fürs Reisen

heute zur Verfügung stehen.

 

Mir scheint:

Da wollten zwei in den Dialog gehen.

Da hatten zwei die Tiefe und die Weite,

um einander begegnen zu können.

In all ihrer Unterschiedlichkeit.

Ohne sich absichern oder verteidigen zu müssen.

Sondern um voneinander zu hören und zu lernen.

 

In seinen Vierzigern wird Franz von Assisi krank.

Fast blind und mit furchtbaren Schmerzen

liegt er in einer Schilfhütte

und schreibt eines der bekanntesten

Gebete der Menschheit,

den Sonnengesang.

 

Darin nennt er Sonne,

Mond und Sterne seine Geschwister.

Lüfte, Wolken und Wetter jeder Art heißt er willkommen.

Er spricht von Vergebung und begrüßt den Tod als seinen Bruder.

Und dann stirbt er, wie er gelebt hat.

Mit einem Lied auf den Lippen.

 

Franz von Assisi hat Liebe wachsen lassen.

Von ganz unten.

Seine Lebensgeschichte lässt mich fragen,

wo ich stehe,

und wie ich weiter gehen kann

und tiefer.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

© Text: In Anlehnung an Stephanie Brall et al, Leben lieben: Kreative Inspiration für Feiertage, Allerweltstage und Lieblingstage. bene! Verlag. 2019. ISBN 978-3-96340-049-0

30.01.2020
Stephanie Brall