Auf dem Markt der Ideen

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Auf dem Markt der Ideen
27.10.2018 - 10:00
30.10.2018
Ralph Frieling
Über die Sendung

Das globale Dorf Internet: Jeder kann sich jederzeit zu allem äußern. Das Netz macht mündige Menschen. Wirklich? Björn Raddatz geht deshalb lieber auf den echten Dorfplatz!

 

Das Internet - in den 90er Jahren, als es wirklich noch Neuland war, hat es die Phantasie angeregt. Wie wäre es wohl, wenn über das Internet jeder mit jedem in Kontakt stehen könnte, jeder ungefiltert seine Meinung sagen und die Meinungen der anderen lesen könnte! Eine große Möglichkeit: mündige, emanzipierte Menschen, die sich direkt und selbst Meinungen bilden können, sich austauschen über Gott und die Welt. Als das Internet noch mit fiependen Modems über die langsame Telefonleitung ins Haus kam, da waren die Hoffnungen groß.

 

Große Hoffnungen, kleine Möglichkeiten

Ich hatte als Theologie-Student relativ früh einen Internetanschluss über die Uni, in den ich mich von zu Hause einwählen konnte. Viele Seiten gab es noch nicht, die man absurfen konnte. Und es hat lang gedauert, bis der Netscape-Browser eine Seite aufgebaut hat. WWW - das stand einmal für „welt-weit-warten“. Ich saß bei surrendem Lüfter am Schreibtisch, vor mir ein großer Monitor, der leicht flimmerte - und habe viel gewartet. Ich hätte damals nicht geglaubt, dass man damit Geld verdienen kann. Heute arbeite ich als Internet-Redakteur. Inzwischen tragen die meisten Deutschen das Internet in der Hosentasche mit sich herum - Informationen, Kontakte - alles in Highspeed. Aber hat uns das Netz, die direkte Kommunikation, mündiger, emanzipierter gemacht? Ist das Netz der Markt der Ideen geworden, von dem in den 90er Jahren geträumt wurde?

 

Tendenzen im Social Web

Ich finde: Nur bedingt. Zur Unterhaltung gehört, dass die Gesprächspartner nicht nur senden, sondern auch empfangen. Nicht nur reden, sondern auch zuhören. In den letzten Jahren gibt es zwei Tendenzen: Die radikalen Ansichten nehmen im Netz einen größeren Platz ein, als in der Gesellschaft: Wenn es nach Likes geht, hat die AfD die Mehrheit längst erreicht: Über 400.000 Likes bei Facebook gegen unter 200.000 Likes für SPD, CDU, Grüne - unter 150.000 „gefällt mir“ für die FDP.  Die Seite der EKD, der evangelischen Kirche Deutschlands, hat nur 20.000 Likes, die meiner hessischen Landeskirche EKHN keine 4.000. Aber: In der realen Welt sind die Größenordnungen ganz anders: Tatsächlich hat die AfD nur 30.000 Mitglieder - während rund 45 Millionen Deutsche (noch) getaufte Mitglieder einer Kirche sind. Wer vertritt also tatsächlich eine schweigende Mehrheit?

 

Die zweite Tendenz: Die Emotion wiegt mehr als das durchdachte Argument. Viele Internet-Nutzer sind getrieben von Gefühlen, überschwemmt von Unsinns-Behauptungen und Verschwörungstheorien - und sind durch das Netz gerade nicht mündig und emanzipiert geworden. Im Gegenteil. Plötzlich glauben Menschen, die Erde sei flach oder hohl, weil andere Verschwörungstheoretiker einen Artikel aus einem Online-Magazin für Verschwörungstheoretiker gepostet haben, in dem diese Entdeckung behauptet wird. Wer braucht da Wissenschaft? Und das ist noch harmlos. Die Angst vor Mikrowellen oder vor Impfungen verbreitet sich wieder, obwohl deren Wirkungsweisen seit langem erforscht und verstanden sind. Das bringt tatsächlich Menschen in Lebensgefahr. Und soziale Netzwerke wie Facebook lehnen jede Verantwortung dafür ab, solchen Unsinn von ihren Seiten zu löschen. Jede und jeder hat ja ein Recht auf eine eigene Meinung, auch bei Themen, zu denen es gar nicht verschiedene Meinungen gibt.

 

Raus aus dem Netz

Wie wohltuend ist das echte Leben! In dem Weindorf, in dem ich lebe, gibt es einen Wochenmarkt. Ein Wagen mit Fleisch, einer mit Fisch, Brot, türkische Feinkost, Obst und Gemüse - und ein Winzer schenkt aus. In der Mitte: Bierbänke. Und da sitzen die Einwohner, trinken einen Wein, essen - und kommen ins Gespräch. Mittendrin die Bürgermeisterin, Leute aus dem Gemeinderat, die Pfarrerin, Kirchenvorsteher: Dorf-Treffen bei gelöster, fröhlicher Stimmung. Was im digitalen großen Markt des Internet leider viel zu kurz kommt: Auf dem kleinen echten Markt funktioniert es. Direkter Kontakt, Absprachen auf dem kurzen Dienstweg. Da werden Taufen angekündigt, Termine festgeklopft, Pläne geschmiedet. Ganz analog.

30.10.2018
Ralph Frieling