Das Versteckspiel

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Das Versteckspiel
21.11.2020 - 10:00
26.11.2020
Diederich Lüken
 

 

Großvater und Enkel

Rabbi David von Miédzibórz, ein Enkel des Rabbis Baruch, liebte es, als er noch ein Knabe war, Verstecken zu spielen. Eines Tages spielte er wieder mit einem Knaben. Er verbarg sich, wartete lange in seinem Versteck, denn er vermeinte, sein Freund suche ihn und könne ihn nicht finden und sein Herz freute sich gar sehr. Lange wartete er so, aber vergebens, sein Gefährte suchte ihn nicht. Er kam aus dem Versteck heraus, fand den Knaben nicht mehr und wurde gewahr, dass er ihn gar nicht gesucht hatte. Er lief in die Stube seines Großvaters, weinte und klagte, „Ich habe mich versteckt, und der böse Henoch hat mich nicht besucht.“ Da entströmten den Augen Rabbi Baruchs Tränen, und er sagte: „Schau, so klagt Gott auch. Er hat sein Antlitz von uns abgewendet und sich vor uns verborgen, dass wir Ihn suchen und ihn finden – wir aber suchen ihn nicht.“

Diese Geschichte wird erzählt von Chaim Bloch und hat ihre Wurzeln in der Erfahrungswelt der osteuropäischen Juden. Diese Menschen leben in Not und können ihre Lage nicht anders verstehen, als es dieser Rabbi tut: Gott hat sein Antlitz von ihnen abgewendet. Und wo Gott sein Antlitz abwendet, entsteht menschliches Elend. Das ist die Überzeugung dieses Rabbis, das ist auch die Überzeugung der Bibel: „Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, verstoße nicht im Zorn deinen Knecht! Denn du bist meine Hilfe; verlass mich nicht und tu die Hand nicht von mir ab, Gott mein Heil!“ (Psalm 27,9). Wenn Gott sein Antlitz verbirgt, so erschrickt der Mensch.

So wie das Kind hat sich auch Gott versteckt. So glaubt es der Rabbi. Das ist für ihn die Ursache des Leids. Aber er hat es getan, damit die Menschen ihn suchen und finden.

 

„Du hast meine Klage in einen Tanz verwandelt“

Viele Menschen in unserem Kulturkreis geben sich glücklich ohne Gott. Sie leben, als sei ihnen die Anwesenheit oder Abwesenheit Gottes egal. Sie suchen ihn nicht. Viele vermuten zwar, dass irgendjemand die Welt gemacht haben muss; aber im Lebensvollzug kommt dieser Jemand nicht vor. Gleichgültigkeit kommt vor, Events um jeden Peis kommen vor, Ideologien kommen vor. Und dies alles geschieht bewusst oder unbewusst ohne Gott. Die Mehrheit in unserem Land sucht Gott nicht. Das ist das Leiden Gottes in unserer ach so reichen Wohlstandsgesellschaft.

Ganz anders aber stellt sich die Sache dar, wenn es nicht mehr klappt mit den Events und dem Spaß. Krankheit, Not und Tod sind unvermeidliche Bestandteile des menschlichen Lebens. Oft hört man dann die vorwurfsvolle Frage: „Wie kann Gott das zulassen?“ Man hat doch keine Verbrechen begangen, man war doch ein ordentlicher Mensch, nun ja, nicht immer, aber meistens doch. Die Betroffenen suchen jetzt doch oft Gott, aber in der Anklage und der Klage. Und wer will behaupten, dass Gott sich in Klage und Anklage nicht finden ließe? Die Wege Gottes zu den Menschen sind so verschieden, wie die Menschen nun einmal sind. „Du hast meine Klage in einen Tanz verwandelt“ heißt es in einem Psalm, „mein Trauergewand hast du geöffnet, mich mit Freude umgürtet!“ (Psalm 30,12).

Wenn wir uns in Klage und Anklage Gott zuwenden, dann ist sein Leid beendet. Dann ist das Versteckspiel zu Ende. In aller Gebrochenheit unserer Existenz können wir dann beginnen, Gott zu suchen.

 

26.11.2020
Diederich Lüken