Neujahr - Ein Fest zwischen Hoffen und Bangen

Spurensuche
Neujahr - Ein Fest zwischen Hoffen und Bangen
01.01.2022 - 10:00
27.12.2021
Jean-Félix Belinga Belinga
 

 

Rasseln statt Böller

In den Tagen um Neujahr wollen sich Menschen auf die Zeit einstellen, die mit der Silvesternacht eingeläutet wird. Was werden wohl die 365 kommenden, langen Tage für das persönliche Leben bedeuten? Die große Unbekannte, die Zukunft verrät keinem, was sie mit sich bringt. Das macht hilflos und machtlos. Aber nur bis wir höhere Mächte befragen, und dafür gibt es, gerade um Neujahr herum, zahlreiche überlieferte Bräuche. Die Erwartung, dass sie hoffnungsstiftende Antworten auf die Frage geben, ob das neue Jahr Glück oder Pech mit sich bringt, mindert die Angst vor der unbekannten Zukunft. Zumindest für einen Augenblick.

Hierzulande ist vor allem das Feuerwerk in der Silvesternacht geläufig. Schon im Mittelalter war esüblich, dass Töpfe, Rasseln, Trommeln und besonders laute Musikinstrumente mit eingesetzt wurden. Das bewirkte die Vertreibung böser Geister, dass Raum entsteht für gute. Viele praktizieren auch das Bleigießen. Die Linsensuppe zu essen garantiert den materiellen Reichtum. Eine Schuppe von einem Karpfen im Portemonnaie sorgt ein Jahr lang für Geldsegen.

 

Champagner mit Asche und andere Ideen

In anderen Ländern finden sich vergleichbare Bräuche. In Spanien besorgt man sich zwölf Weintrauben, die an Silvester um Mitternacht verzehrt werden. Dabei soll bei jedem der zwölf Glockenschläge eine Traube gegessen werden. Das bringt Glück und Reichtum. Pech kann es dem bringen, der nach dem letzten Glockenschlag immer noch Trauben im Mund hat. In Russland schreiben sich Leute ihren Wunsch auf einen Zettel, den sie anschließend verbrennen. Die Asche wird mit Champagner vermischt getrunken. In Peru entschlüsseln viele ihr Schicksal im neuen Jahr durch Kartoffeln. Drei Kartoffeln werden unter einem Sofa deponiert. Eine davon ist ganz geschält, eine ist halb geschält und eine bleibt ungeschält. In der Silvesternacht wird um Mitternacht eine Kartoffel blind herausgeholt. Erwischt man als erste die ungeschälte, spricht das für Reichtum. In Japan essen die Menschen zur Jahreswende gerne lange bräunliche Nudeln aus Buchweizen. Ein langes Leben und das finanzielle Glück sollen dadurch garantiert werden.

Die Bräuche um Neujahr helfen nicht nur, die eigene Neugier im Blick auf die Zukunft zu befriedigen. Es geht auch darum, das eigene Schicksal zu steuern. Doch Glück ist nicht beherrschbar. Keine Orakelbefragung kann vorhersagen, wann, wie und wo sich das Glück im Leben ereignet.

 

Ein Unfall in Kamerun

Ein Erlebnis in meinem kamerunischen Heimatdorf Ndele gibt mir seit vielen Jahren ein Rätsel auf. Dort in Ndele lebte Daniel. Er besaß den einzigen Laden im Dorf. In Daniels Laden bekam man Fleischkonserven, Tomatenmark, Reis, getrockneten Fisch und viele andere Lebensmittel. Als er mit seinem Moped schwer verunglückte, setzte das den Dorfbewohnern sehr zu. Noch mehr waren sie alle besorgt, weil Daniels Frau hochschwanger war. Sein Zustand deutete darauf hin, dass er sehr bald sterben würde. „Er ist dem Tod deutlich näher als dem Leben“, wurde sein Zustand immer wieder beschrieben.

Einem Pfarrer, der zufällig zu Besuch ins Dorf kam, wurde über die akute Situation berichtet. Er beschloss, den im Koma liegenden Patienten zu besuchen. Am Bett Daniels stand er genauso ratlos da wie alle anderen Besucher. Fassungslos machte er sich daran, sich nach kurzer Zeit wieder zu verabschieden. Er legte eine Hand auf den Patienten und sagte: „Ich wünsche dir …“ Weiter kam er nicht, denn Daniel öffnete schwach die Augen und sagte, deutlich hörbar: „Wünsche mir nichts, was du nicht einhalten kannst.“ Perplex blickte der Pfarrer um sich. Doch er fand die Fassung wieder und erwiderte: „Dann werde ich dafür beten, dass du wieder gesund wirst und bald bei deiner Frau und deinem Kind sein kannst.“ Daniels Blick blieb einen Augenblick auf dem Pfarrer geheftet. Dann schlossen sich die Augen wieder langsam. Er sah erschöpft aus, entspannte sich jedoch und schlief wieder ein. Dieses Mal aber war es ein guter Schlaf. Als er wieder aufwachte, sagte er als erstes, er habe Hunger. Ab da wurde bei allen Betroffenen die erloschene Hoffnung wieder spürbar.

Daniel blieb zwar noch zwei Monate im Krankenhaus. Aber er wurde wieder vollkommen gesund. Seinen Laden betrieb er noch viele lange Jahre danach.

Heute blicke ich auf jenes Ereignis zurück und frage mich, was tatsächlich aus dem Bangen um Daniel, Hoffnung entstehen lassen hatte.

 

27.12.2021
Jean-Félix Belinga Belinga