Als Herbert sich einmal umdreht

Wort zum Tage
Als Herbert sich einmal umdreht
19.05.2021 - 06:20
14.05.2021
Michael Becker
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Allein sein ist schwer. Das weiß Herbert. Vor vier Jahren stirbt seine Frau. Plötzlich ist er allein. Anfang sechzig, Frührentner und kein Plan. Herbert schlurft durch die Tage, damals. Ohne Ziel, ohne Lust. Geht mal hierhin, mal dorthin. Ist nie so richtig da, wo er gerade ist. Seine Gedanken sind mehr auf dem Friedhof als in der Welt der Lebenden. Die Wohnung ist auch kein Schmuckstück mehr. Meist ist er nämlich im Kaffeehaus am großen Platz. Immer ein schöner Spaziergang dahin. Da sitzt Herbert. Eine Stunde morgens, ein bis zwei am Nachmittag. Isst etwas und trinkt und schaut vor sich hin. Denkt sich seinen Teil. Einmal, im Frühherbst, denkt Herbert mehr als sonst. Wenn Gott mein Freund wäre, denkt er da, dann müsste mal was passieren mit mir. Irgendetwas, obwohl er nicht weiß, was passieren müsste. Also schaut er weiter vor sich hin. Tagelang, wochen-lang. Jeden Tag im Kaffeehaus. Und merkt nicht, dass längst etwas passiert ist. 

Naomi ist passiert. Sie arbeitet im Café. Sie kocht Kaffee, schmiert Brötchen. Manchmal bedient sie auch. Aber sie spricht nicht so gut Deutsch. Deswegen traut sie sich nicht zu Kunden, bleibt lie-ber hinter den Kulissen. Aber sie kennt Herbert. Und mag ihn. Sie spürt seine Verlorenheit. Es geht ihr genauso. Die Kinder sind groß. Ihr Mann ist bei einer anderen. Wie das so ist im Leben. Naomi sieht Herbert fast jeden Tag. Der aber sieht nichts. Kein Wunder, er guckt ja auch immer woanders hin. Meist in sich hinein. Bis es mal so laut klappert, dass er erschrickt und sich umdreht. Da sieht er den Blick, den Naomi ihm gibt. Kein Zufallsblick, das sieht Herbert. Vielleicht war auch das Klap-pern kein Zufall, wer weiß. Jetzt schaut auch Herbert genauer hin. Sein Blick ist anders geworden. Wärmer, herzlicher. Er zupft sogar an seinem Hemd und streicht sich über die Haare, damit er bes-ser aussieht. Da lacht Naomi. Wie verlegen und ein bisschen verliebt. Herbert bestellt noch einen Kaffee. Sein vierter heute. Das wäre was, denkt er. Naomi und ich. Afrika und Nordhessen. Wie klein die Welt ist. Und Gott so groß.
 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

14.05.2021
Michael Becker