Die Mauer fällt

Wort zum Tage
Die Mauer fällt
17.12.2019 - 06:20
12.12.2019
Lukas Pellio
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14 Menschen, die seit vier Jahren im Kreis gehen. Sieben Mal. Schweigend. Jeden Donnerstag um 12 Uhr. Treffpunkt: Federal Plaza, Downtown Manhattan.

Immer dabei: Ravi Ragbir. Er ist 1991 von Trinidad in die USA eingewandert. 15 Jahre später sollte er abgeschoben werden und wurde deshalb inhaftiert. Er wehrte sich und wurde zu einem Aktivisten für die Rechte von Migrantinnen und Migranten den Staaten. Regelmäßig muss er beim Immigration Court – der Ausländerbehörde – vorsprechen. August 2019, Downtown Manhattan, Federal Plaza: Ich stehe mit den Demonstrant*innen vor dem Immigration Court.

Heute bläst Ravi das Schofar – Gemacht aus einem Widderhorn. Ein jüdisches Blasinstrument, dessen berühmtesten Auftritt in der Bibel die Mauern von Jericho nicht überstanden.

 

Die Frauen, Männer und Kinder Israels standen vor Jericho und hatten sich auf das Versprechen verlassen:

„Schreitet um die Stadt herum, […] am siebten Tag umrundet die Stadt sieben Mal. […] Wenn ihr die Stimme des Schofar hört, sollen alle Frauen, Männer und Kinder Israels schreien, ein lautes Jubelgeschrei sollen sie ausstoßen – dann fällt die Mauer.“ (Jos 6,3-5)

 

Seit vier Jahren gehen sie im Kreis. Nach jeder Runde um den Block bleiben wir vor den Stufen des Immigration Court stehen und beten. Beim ersten Mal laut, die folgenden Runden still. Manche heben dabei die Hände wie zum Segen in Richtung der Ausländerbehörde.

Wir beten:

„Wir wissen, dass Du ein gerechter Gott bist und dass Du unsere Gebete erhört hast. Wir wissen, dass Du in der Fülle der Zeit diese Mauern der Ungerechtigkeit niederreißen wirst.“

 

Schweigend drehen wir unsere Runden. Am Sicherheitspersonal vorbei. An dem Burritostand vorbei. Vor allem aber an den vielen Menschen vorbei, die vor dem Gebäude warten. Die, wenn sie hereingehen, nicht wissen, ob sie bleiben dürfen oder abgeschoben werden.

 Alle, die mit mir im Kreis gehen, sind auch an anderen Tagen hier. Sind selbst von Abschiebung bedroht oder begleiten andere zu ihren Terminen. Oder beides.

Aber heute ist ein anderer Tag. Heute soll die Mauer endlich fallen.

Wir stoppen das letzte Mal. Beten. Micah liest die Namen derer, von denen wir wissen, dass sie in der kommenden Woche beim Immigration Court vorgeladen sind. Namen für Namen und wir antworten jedes Mal: „Presente!“ – Anwesend – . Schweigen. Ravi bläst das Schofar. Wir schreien. So laut, wie ich zum letzten Mal als Kind geschrien habe.

Ein lautes Jubelgeschrei stoßen wir aus – dann fällt die Mauer.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

12.12.2019
Lukas Pellio