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„Nennt mich Ismael.“ Mit diesen Worten beginnt der Roman Moby Dick, der 1851 erscheint, vor 170 Jahren. „Immer, wenn mir der Mißmut am Mundwinkel zerrt und nieselnder November in die Seele einzieht, … ist’s für mich die allerhöchste Zeit, zur See zu gehen“ (Moby Dick, 25). So geht es weiter mit Ismael. Der junge Mann erzählt die Geschichte von Kapitän Ahab, dem Walfänger Pequod und der Jagd auf den weißen Wal. Moby Dick ist ein episches Drama, religiös aufgeladen, mit großen Helden im Stil eines William Shakespeare. Ismael ist der Chronist des Geschehens, genauer Beobachter, bleibt aber eine Randfigur im Kampf mit den Elementen, ein Nebendarsteller.
Mit „Ismael“ trägt sich Herman Melville, der Autor, selbst in Moby Dick ein. In jungen Jahren ist er ein Träumer wie sein späterer Romanheld, Außenseiter, einer, der seinen Platz im Leben sucht. 1841 geht Herman Melville an Bord eines Walfängers, umrundet Kap Horn, jagt im Pazifik Pottwale. Auf seiner Reise fällt ihm das Buch von Owen Chase über den „außergewöhnlichen Schiffbruch der Essex“ in die Hände. Der Obermaat und Steuermann, Owen Chase, schildert in seinem Buch den Untergang des Walfängers Essex. Der Dreimaster wird mitten im Pazifik von einem Pottwal gerammt und versenkt. Das Tier soll beinahe so groß wie die Essex gewesen sein, fast 28 Meter. Es will seine Artgenossen rächen, schildert Owen Chase.
Der Tatsachenbericht wird zum Stoff für Moby Dick, historische Vorlage für ein literarisches Meisterwerk. Im Schlusskapitel nimmt Herman Melville viele Details über die Walattacke auf, wie das Buch von Owen Chase sie schildert. Neben diesem Bericht verarbeitet Herman Melville noch anderes literarisches Material in Moby Dick, vor allem: Geschichten der Bibel. Der Schriftsteller gibt seinen Helden Namen aus den Mose- und den Königsbüchern des Alten Testaments. Ahab, benannt nach einem dunklen jüdischen König, daneben dessen Gegenspieler, Elias, der als Unheilprophet im Hafen von Nantucket auftaucht, und natürlich Ismael. Sein Name geht auf den erstgeborenen Sohn Abrahams zurück. Es ist eine delikate Episode aus den sogenannten Vätergeschichten. Weil Sarah, Abrahams Frau, keine Kinder bekommen kann, soll er einen Nachkommen mit seiner Magd Hagar zeugen. Doch dann wird auch Sarah schwanger, es kommt zum Konflikt. Abraham schickt Ismael und seine Mutter Hagar in Wüste, will sie aus der Heilsgeschichte verjagen. Mitten im unendlichen Sandmeer drohen beide zu verdursten. Doch Gott greift ein, er sendet seine Engel, rettet Mutter und Sohn und breitet über beiden seinen Segen aus. Und dann wird auch der verstoßene Nebendarsteller Ismael zum Vater eines großen Volks.
Der Ismael im Roman Moby Dick wird ebenfalls gerettet. Er überlebt, als einziger, die Katastrophe. Mannschaft, Schiff, Kapitän – alle werden vom Weißen Wal, von Moby Dick, in die Tiefen gerissen. Ismael entkommt dem Strudel, klammert sich an ein Stück Treibgut, das nach dem Untergang an die Oberfläche steigt. Tage darauf wird er von einem anderen Walfänger – der Jerobeam – aus dem Wasser gefischt. So endet Moby Dick nach 600 Seiten.
Die Romanfigur Ismael macht den Träumer und Außenseiter Herman Melville später berühmt. Moby Dick gilt als ein epochales Werk, eines der ganz großen Bücher der Literatur. Es hält viele Botschaften für seinen Leserinnen und Leser bereit. Mit Blick auf Ismael, den Erzähler, ist es diese: Gott hat ein Herz für die Nebendarsteller, für die Verstoßenen, die Randfiguren im großen Geschehen.
Es gilt das gesprochene Wort.