Thomas Jeutner
Unvollendet:
Wochen des Wandels, vor drei Jahrzehnten
03.11.2019 07:05
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Es ist ein nieseliger, kalter Herbstmorgen, als ich vom West-Berliner Wedding aus in Richtung der Bernauer Straße gehe. Die Fußgängerampel zeigt Rot. Beim Warten staune ich über die Menge der Autos. Radfahrer brausen die abschüssige Straße hinunter. Durch den Stopp an der Ampel habe ich Zeit, mich zu erinnern: Wie gespenstisch ruhig damals diese Bernauer Straße als Grenze gewesen war.

 

Es gab fast keinen Verkehr. Von Ost-Berlin aus waren alle neun Seitenstraßen, welche die Bernauer Straße seit 150 Jahren gequert hatten, einfach vermauert gewesen. Wir konnten von Ost-Berlin aus die eineinhalb Kilometer lange Straße selbst gar nicht sehen. Aber wir haben die mehrstöckigen modernen Wohnquartiere im Westen hinter der Straße wahrgenommen. Von weitem, über die Mauer hinweg. Was mochten es für Menschen sein, die dort wohnen?

 

In den 80er Jahren waren wir jung. Wir haben ganz in der Nähe der Mauer studiert. Bei so einer nebligen Witterung wie jetzt, im November, erkannten wir abends die erleuchteten Fenster hinter den Balkonen. Wenn es still war, konnten wir sogar Motorengeräusche hören, wenn ein Bus um die Ecke fuhr. Es waren Doppelstockbusse. Die gab es bei uns nicht, in Ost-Berlin. Ihr oberer Teil, mit der Werbung unter den Fenstern, war über die Mauer hinaus zu sehen. Vier Meter und sechs Zentimeter Höhe hat ein Doppelstockbus. Damit überragte er ein Stück die Mauer, mit ihren drei Metern und zwanzig. Die genauen Maße habe ich nachgesehen, weil ich misstrauisch war, ob ich mich richtig erinnern konnte.

30 Jahre, das ist viel Leben. 1989 war ich fast 30. Heute bin ich fast 60. Manches verblasst in der Erinnerung. Aber nie werde ich mein bedrücktes, trauriges Gefühl vergessen, das in mir war, wenn ich damals die Bernauer Straße vom Osten aus wahrgenommen habe. Ich dachte, ich werde vielleicht einmal nach Angola kommen. Oder nach Kuba. Aber nie auf die andere Seite des vermauerten Bürgersteiges der Bernauer Straße.

Grün – zeigt die Ampel, und reißt mich aus meinen Gedanken.

 

Ich gehe langsam über die Bernauer Straße. Die junge Frau neben mir, die auch an der Ampel gewartet hatte, hat einen schnellen, unternehmungslustigen Schritt. So ist sie schneller angekommen, drüben, im Osten. Nur ihr Parfüm weht noch vor mir her. Die jungen Leute sind zum Glück nicht mehr mit dem Sensorium des Kalten Krieges groß geworden. Sie können so eine ehemalige Grenz-Straße einfach überqueren. Weil es inzwischen eine ganz normale Berliner Straße ist.

Sie trennt zwar immer noch Welten, wenn ich an die bunte, migrantische und einkommensbenachteiligte Welt des Weddinger Gesundbrunnen mit seinen Sozialbauten denke. Und wenn ich drüben das neue und hippe Berlin-Mitte dagegenhalte, wo wegen der überteuerten Mieten kaum noch ein ehemaliger Ost-Berliner wohnen kann. Die Bernauer Straße ist irgendwie immer noch eine Grenze: aus Einkommen, Sprachen und kulturellen Hintergründen. Aber – ich kann sie in beiden Richtungen überqueren. Und seit 30 Jahren wird dabei niemand mehr erschossen.

 

DIE MAUER

Als wir sie schleiften,

ahnten wir nicht,

wie hoch sie ist

in uns

Wir hatten uns gewöhnt

an ihren horizont

Und an die windstille

In ihrem schatten

warfen alle keinen schatten

Nun stehen wir entblößt

jeder entschuldigung

 

Reiner Kunze

 

In einem Roggenfeld, auf der östlichen Seite der Bernauer Straße, liegt auf der Erde das schmiedeeiserne Turmkreuz der Versöhnungskirche. Das fünf Meter lange Eisen ist verrostet, und verbogen. Vor 125 Jahren, bei der Einweihung der historischen Versöhnungskirche, ragte es in 75 Meter Höhe über dem Häusermeer. Es sah herab auf die engen Wohnungen der Arbeiterfamilien, die hier in herunter gekommenen Häusern lebten. Es sah die jungen Männer in den Ersten Weltkrieg ziehen, und verwundet zurückkommen. Es sah die Bombenangriffe auf die Bernauer Straße, als die Gewalt des Zweiten Weltkrieges seit 1943 auch nach Berlin zurückkam. Das Kreuz sah 1961 die Errichtung der Grenze. Und die sofortige Einmauerung der Versöhnungskirche selbst. Unzugänglich von Ost und West stand sie 24 Jahre lang im Todesstreifen. Wie eine Gefangene, verurteilt zu "Lebenslänglich".

 

Im kalten Januar 1985, nach siebenjährigen Verhandlungen zwischen der DDR und den Kirchen in Ost- und West-Berlin über das Schicksal des Gotteshauses, wurde die Versöhnungskirche von den DDR-Behörden gesprengt. Es gibt ergreifende Filmaufnahmen, worin zu sehen ist, wie sich das Kreuz durch die Wucht der Explosion vom Turmdach ablöst. Das tonnenschwere Eisen fliegt in hohem Bogen mehrere hundert Meter weit nach Ost-Berlin. Es landet auf einem nahen Friedhof. Die Spitze des Kreuzes, die einst in den Himmel ragte, kracht auf die froststarrende Erde in einem Grab. Das Eisen verbiegt sich, für alle Zeiten. Friedhofsarbeiter haben es geborgen und versteckt gehalten. 14 Jahre lang, bis ans Ende der 90er Jahre. Da brachten sie es zurück, zur Baustelle der kleinen, aus Lehm errichteten Kapelle der Versöhnung. Die Kapelle steht auf einem Teil vom Grundriss der alten Kirche. An diesem Erinnerungsort, der heute zur Gedenkstätte Berliner Mauer gehört, ist das Kreuz heute zu sehen.

 

Es steht dort halb aufgerichtet, verankert auf der Betonstraße des ehemaligen Postenweges der NVA-Grenztruppen. Was für ein Zeichen: Ein Kreuz, unverrückbar auf einem Kontroll-Weg, den Wachmannschaften benutzten, um Fluchten auf die andere Seite des Bürgersteiges zu verhindern.

 

Manchmal trete ich nah heran an das Eisen. Ich berühre es mit der Hand, und fühle die rostige, raue Oberfläche. Mir bedeutet es viel, dass das gekrümmte Kreuz nicht mehr in unerreichbarer Höhe über den Dächern thront. Es ist hier unten, bei uns Menschen. Erreichbar und spürbar. Seine vom Sturz verursachte Krümmung ist vielleicht mit unseren Krümmungen verwandt: Mit den Kurven und Umwegen, die wir im Leben ziehen, ehe wir das Gefühl haben, einen Schritt voran gekommen zu sein. Wie oft haben wir selbst krumme Dinger gedreht? Das gekrümmte Kreuz ist für mich eine authentische Predigt: Dass die Gotteskraft am Ort des Schmerzes ist. Sie ist dort, wo etwas zerbricht. Auch hier an der Bernauer Straße, deren Gedenkstätte von der verwundeten Geschichte im geteilten Berlin erzählt.

 

Ich erinnere mich genau an jenen Moment, als ich wie angewurzelt stehen blieb vor dem Großbildschirm im Dokumentationszentrum Berliner Mauer. Ich hatte meinen Seelsorgedienst in der Weddinger Versöhnungsgemeinde und am kirchlichen Erinnerungsort Bernauer Straße gerade erst begonnen. Um die Räume des Mauer-Museums kennen zu lernen, wanderte ich durch die Etagen, bis ich an diesem Bildschirm vorbeikam. Der Film zeigte Ausschnitte aus den Herbst-Wochen der Friedlichen Revolution. In den Aufnahmen war der Alexanderplatz zu sehen, als die größte nichtstaatliche Demonstration eine halbe Million Menschen auf die Straße brachte.

 

Das war am 4. November 1989, morgen ist es genau 30 Jahre her. Wir waren mit ein paar Straßenmusik-Freunden mitten in der Menge der Hunderttausenden. Wir sangen und spielten – und trauten unseren Augen nicht. Wir staunten, wie viele wir waren. Und – dass es friedlich blieb! Es ging damals vor allem um die § 27 und 28, die zwar in der Verfassung der DDR verankert, aber nie verwirklicht waren. Es ging um nichts weniger als Versammlungsfreiheit. Um Meinungsfreiheit, und Pressefreiheit.

 

Unglaubliche Transparente waren in dem Film zu sehen, mit Losungen, die ich schon längst vergessen hatte:

"Freie Wahlen!"; "Die Macht teilen, wie das Brot"; "Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht!". "Es lebe die Oktoberrevolution 1989"; "Aus dem russischen Funken wird eine deutsche Flamme", und "Gorbi, wir danken dir!".

 

Dann sah ich ein Transparent, das ich noch nie wahrgenommen hatte:

"Mauer ins Museum!"

Selten zuvor hatte ich einen solchen Moment des Begreifens: dass mutige Wut-Träume in Erfüllung gehen.

 

Von den Forderungen der Ökumenischen Versammlung, die 1988 und 1989 in Magdeburg und Dresden getagt hatte, bleibt im Vergleich zu heute vieles unerfüllt. Dieses äußerst kritische und mutige Forum der Evangelischen, Katholischen und Freikirchen Ostdeutschlands, noch lange vor der Gründung des Neuen Forum im September 1989, hatte mitten in der Diktatur eine Gesellschaftsanalyse vorgelegt, die es in sich hatte. Zum Schrecken der Staatssicherheit waren über 10.000 Eingaben aus Gemeinden bei der Vollversammlung eingegangen.

 

Es ging um Ungerechtigkeit, sowohl global als auch in der DDR. Benannt wurden die Rüstungs-, Wehrdienst- und Wehrerziehungs-Fragen. Dazu der gefährliche Uranbergbau in der DDR, das Waldsterben im Erzgebirge. Um den ökologischen Untergang unseres Planeten zu verhindern, forderte die Ökumenische Versammlung dringendes Handeln – nicht nur vom Staat, auch von jeder und jedem Einzelnen. Diese Dokumente lesen sich wie die Analysen der jungen Umweltaktivistinnen und -aktivisten von heute. Geschehen – ist fast nichts.

 

Das wichtigste Signal-Wort der Ökumenischen Versammlung war: "Umkehr". Die Überzeugung, dass nur eine ernst gemeinte Umkehr den Zusammenfall der menschlichen Zivilisation verhindern könnte, ist verloren gegangen. Angelehnt an die biblische Rede des Jesus von Nazareth und sein Eintreten für eine radikale Umkehr formulierten die ökumenischen Delegierten in ihrem Abschlussdokument am 30. April 1989:

 

Die biblische Umkehr-Botschaft, wie wir sie vor allem aus dem Munde Jesu hören, ist ein Schlüsselwort der skizzierten globalen und lokalen Situation. (…) Umkehr führt nicht – nostalgisch – in die Vergangenheit, sondern – prophetisch – in die Zukunft.

 

In insgesamt zwölf mehrheitlich abgestimmten Texten formulierten die Kirchen ihren Willen zur Veränderung. Wir lesen vom Leben in Solidarität, von der Grundorientierung am Schalom Gottes. Von einem Frieden, der nicht "errüstet" wird, sondern lebt von der "vorrangigen Option der Gewaltfreiheit". Viele Inhalte der Ökumenischen Versammlung sollten sich einige Monate später wiederfinden in den Programmen der neu entstandenen politischen Parteien und Bewegungen. Die ökumenischen Texte hatten den Anspruch, den Prozess des Wandels zu beeinflussen.

 

Die biblische Umkehrpredigt richtet sich seit den Propheten des Alten Testamentes nicht nur an den Einzelnen, sondern an das Volk, seine Mandatsträger und Gesellschaftsklassen. Sie ruft in die Umkehrung zu Gott, die sich konkret auch in Verteidigungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik vollzieht. Der Umkehrruf zielt auf Herz und Verhalten wie auf Verhältnisse.

 

Die prophetischen Texte der Ökumenischen Versammlung sind in den Archiven abgelegt – und vergessen worden. Und dennoch ist es angemessen, dass wir in diesen Wochen zurückblicken auf die Wochen des Wandels, die historisch geworden sind. Und zu Recht ist die Mauer heute im Museum, und die Bernauer Straße ein Gedenkort. Er erinnert und mahnt Menschen aus aller Welt an die Todesopfer der Teilung und an staatliche Gewalt an den Grenzen – wo immer man sie erneut errichten will.

 

Obwohl das freie Wählen und Reisen und Äußern der Meinung unwiderrufliche, auf der Straße erzwungene Errungenschaften der Demokratie geworden sind – die Herausforderungen der Friedlichen Revolution bleiben unvollendet.

 

Längst hatten die Spitzenfunktionäre des untergehenden DDR-Staates für den Umsturz eine weichere, weniger schmachvolle Formulierung gefunden: Die "Wende". Ärgerlicherweise hat sich dieser Begriff heute allgemein durchgesetzt. Dabei stammt er ursprünglich von Egon Krenz, dem Staatsratsvorsitzenden und Verantwortlichen für die Fälschungen der letzten DDR-Wahlen. Krenz verkündete in seiner Antrittsrede am 18. Oktober, "eine Wende einzuleiten", aber unter der Führung der Partei. Dieser Plan ging nicht auf. Aber das Wort Wende ist hartnäckig geblieben.

 

Kritik daran kam schon am 4. November, bei der Alexanderplatzdemonstration.

Auf ein Transparent hatte jemand geschrieben:

"Wer Peking lobt, soll hier nicht wenden!"; auf anderen Plakaten stand: "Lasst euch nicht verwenden!"; oder "Wendehals, ick hör dir trapsen!";

 

"Wende" – ein schwaches, verniedlichendes Wort. Es reicht nicht annähernd aus, um die Energie des Umsturzes auszudrücken, den wir erlebten. Das Wort Wende kann nicht die Angst ausdrücken, die wir damals mit auf die Straße nahmen: Angst, dass geschossen wird! Egon Krenz selbst war es, der die Panzer gelobt hatte, die im Juni 1989 in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens über Demonstranten rollten.

 

Dagegen war es in Ost-Deutschland die friedensstiftende Kraft der Kirchen, und ihre Losung "Keine Gewalt" – es war die Macht der Kerzen und der Gebete, die bei der großen Demonstration von 70.000 Menschen am 9. Oktober in Leipzig die Waffen schweigen ließen. Dieser 9. Oktober von Leipzig, mit dem gesammelten Mut der Menschen, beschreibt eindrücklich den Untergang der waffenstarrenden Diktatur. Ein Datum, das eines Nationalfeiertages würdig gewesen wäre.

 

Stattdessen begehen wir Deutschen einen Dritten Oktober, mit dem der Verwaltungsakt der Deutschen Einheit vollzogen wurde. "Friedliche Revolution?", "war es überhaupt eine Revolution?", werde ich in meinem West-Berliner Stadtteil manchmal mitleidig gefragt. Distanziert wird auch geredet vom sogenannten "Mauerfall". Als wenn eine Todesgrenze fallen könnte wie Blätter fallen oder wie Nebel und Schnee oder ein Vorhang fallen kann. Ich spreche lieber vom Mauersturz. Und von den Einwohnern aus meiner von der Mauer abgetrennten Straße in Ost-Berlin, in der ich lebte, mit denen zusammen wir die Mauer eindrückten und eingerissen haben – aber ich ernte verwunderte Blicke.

 

Damals, es war der zehnte November 1989, führte mein erster Schritt durch die für einen winzigen Durchgang geöffnete Mauer – hinein in die ost-west-geteilte Bernauer Straße. Im Nacken spürten wir den alten Schmerz – aber vor uns lag die neue, nicht zu fassende Freiheit. Wir weinten. Und grüßten und umarmten uns mit fremden Menschen. Das war vor 30 Jahren, und doch ist es wie gestern. Wir erinnern uns, wo wir waren in jener Nacht, mit wem wir gesprochen haben, wen wir umarmten.

Wir wissen, wer unsere Tränen der Freude gesehen hat.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
1) Andante sostenuto, Dezsö Ranki, Klaviersonate in B-Dur, D 960 (Franz Schubert)

2) Scherzo, Dezsö Ranki, Klaviersonate in B-Dur, D 960 (Franz Schubert)

3) Impromptu in Es-Dur, Dezsö Ranki, Klaviersonate in B-Dur, D 960 (Franz Schubert)

4) Impromptu in Ges-Dur, Dezsö Ranki, Klaviersonate in B-Dur, D 960 (Franz Schubert)