Sendung zum Nachlesen
Thomas Alva Edison, der Erfinder der Glühbirne, des Grammophons und der Filmkamera, war ein Genie. Aber: der Mann war doof. Im ursprünglichen Sinn des Wortes: Er war fast taub. „Taub“ heißt im Niederdeutschen „doof“. Und „doof“ ist einer, der nichts versteht. Buchstäblich. Weil er‘s gar nicht hören kann. Nur hat man früher den Zusammenhang zwischen Nichts-Verstehen und Nichtshören-Können nicht erkannt. Die Tauben, die Hörgeschädigten waren die „Doofen“. Man hielt sie einfach für zu blöd, Dinge zu verstehen. Mit denen wollten die wenigsten etwas zu tun haben.
Edison hat das schmerzlich an sich selbst erlebt. Im ersten Jahr der Grundschule, als er noch nicht lesen konnte, brachte er eines Tages einen Brief seines Lehrers an seine Mutter mit. Die machte ihn auf, überflog ihn und las ihn dann mit Tränen in den Augen ihrem Sohn laut vor:
„Ihr Sohn ist ein Genie. Diese Schule ist nicht groß genug für ihn und hat keine Lehrer, die gut genug sind, ihn zu unterrichten. Bitte, unterrichten Sie ihn selbst!“ Was sie dann auch tat – mit fantastischem Erfolg.
Viele Jahre später – nach dem Tod seiner Mutter – fand Edison diesen Brief im Nachlass seiner Mutter. Er konnte ihn nun selber lesen, und da stand in Wirklichkeit: „Ihr Sohn ist geistig behindert. Wir wollen ihn nicht mehr in unserer Schule haben!“ Edison soll stundenlang geweint haben, als er realisierte, was seine Mutter für ihn getan hatte.
Die Schule wollte also mit dem „Doofen“, der nichts verstand, nichts zu tun haben. Die Mutter aber hat das Urteil der Schule um 180 Grad umgedreht. Sie hat ihrem Sohn die Förderung zukommen lassen, die es ihm ermöglichte, seine reichen Talente zu verwirklichen.
Wie eine Mutter, heißt es beim Propheten Jesaja, will Gott trösten. Es ist eine alte, unbändige Hoffnung des Glaubens, dass in den Augen Gottes „alles gut“ ist, weil er alles neu macht. Ein Umkehrprinzip, dass sich quer durch die Überlieferungsgeschichten der Bibel findet. Es lehrt: das Leben, die Menschen und Dinge neu zu sehen.
Yitzhak Perlman, ein anderer großer Amerikaner, hat das einmal eindrücklich vorgeführt. Perlman ist einer der bedeutendsten Geigenvirtuosen der Gegenwart. Als Kind hat er Polio gehabt, seitdem kann er sich nur noch auf Krücken bewegen. Geige spielt er im Sitzen. Und trotzdem herausragend.
Vor einigen Jahren, als er gerade ein Violinkonzert mit großem Orchester spielte, reißt mit lautem Knall die höchste Saite, die E-Saite. Andere Geiger hätten an dieser Stelle abgebrochen, um eine kleine Pause gebeten, wären hinter die Bühne gegangen und hätten eine neue Saite aufgezogen. Das Publikum, dass dieses Malheur ja mitbekommen hat - es hätte dafür volles Verständnis gehabt.
Nicht so Perlman. Er setzt nur kurz ab und beginnt diesen Satz von vorn. Das Orchester und der Dirigent gehen mit. Und dann erlebt das Publikum etwas, das unendlich mehr wert ist als ihr Eintrittsgeld: Vor ihren Augen und Ohren „schreibt“ Perlman das Stück förmlich um, und wagt neue Fingersätze, die er noch nie geprobt hatte. Er muss ja mit drei Saiten auskommen!
Nach dem letzten Ton springt das Publikum begeistert auf und will nicht aufhören zu applaudieren. Perlman winkt nach einer Weile ab und sagt dann ganz ruhig: „Manchmal ist es eben die Aufgabe des Künstlers herauszufinden, wie viel Musik er noch mit dem machen kann, was ihm geblieben ist!“
Das war ja seine Erfahrung nicht nur an diesem Abend. Und das tun viele, denen das Leben eine Behinderung zugemutet hat, täglich: herausfinden, was sie mit ihren Kräften machen können.
Das lehrt: das Leben, die Menschen und Dinge neu zu sehen. Vermeintlich „Doofe“ werden zu Erfindern, eine gerissene Seite lässt neu hören und vielleicht nicht alles, aber doch eine ganze Menge ist gut, viel besser als vermutet.
Es gilt das gesprochene Wort.