Sendung zum Nachlesen
Der Frühling steht vor der Tür.
Die Samenkörner, die ich in diesen Tagen
in die Töpfe auf meiner Fensterbank gesät habe,
führen mich in die Tiefe.
Ich frage mich:
Was machen diese Samenkörner in der Erde,
in die sie so tief gefallen sind?
Und ich finde heraus:
Der erste Teil, der aus dem Samenkorn hervorkommt,
festigt den Keimling in der Tiefe,
damit die Pflanze bei einem Sturm nicht fortweht.
Von dort breiten sich nach und nach
weitere Wurzelteile aus.
Sie versorgen den Keimling
mit Wasser und Nährstoffen.
Dass er wachsen kann,
in die Tiefe, in die Weite
und über sich hinaus.
Ich denke an einen,
der in diese Tiefen seines Lebens vorgedrungen ist
und von dorther herausfand,
wie er leben möchte.
Einst war er der feine Herr aus gutem Hause gewesen.
Geschäftstüchtiger Tuchhändlersohn.
Stadtbekannt und stets im Mittelpunkt.
Ein mutiger Krieger.
Doch dann gerät er in Gefangenschaft -
da ist er Anfang zwanzig.
Krank kommt er zurück.
In seiner Seele wird es Nacht.
Er sinkt auf den dunklen Grund des Lebens.
Jahre der inneren Wandlung
folgen, in denen er wieder und wieder
die Liebe nach sich rufen hört.
Einmal geschieht das, als er in der kleinen,
halb zerfallenen Kirche San Damiano meditiert:
"Geh und bau mein Haus wieder auf ...",
hört er jemanden sagen
und fängt daraufhin an,
verfallene Kapellen zu reparieren.
Ein anderes Mal begegnet er einem Aussätzigen.
Früher hätte er ihn gemieden,
hätte Angst gehabt, sich anzustecken.
Diesmal sieht er sein Gesicht,
sein Herz, den Menschen.
Und er kann nicht anders,
als von seinem Pferd zu steigen
und ihn zu umarmen.
In der Umarmung weicht die Angst,
wird er selbst zum Menschen.
Sein Name ist:
Franz von Assisi.
Es sind diese Jahre,
in denen sich alles wendet für ihn.
In denen er sein altes Leben auszieht,
die teuren Kleider seinem Vater vor die Füße wirft
und von seiner Suche nach dem Vater im Himmel spricht.
Er verkauft sein Pferd und alle seine Besitztümer
auf dem Marktplatz seines Heimatortes.
Sie lachen über ihn. Erklären ihn für verrückt.
Andere folgen ihm.
Darunter ein Geschäftsmann, ein Jurist, ein Landwirt.
Sie nennen sich die "Minderbrüder".
Aus ihnen würden einmal die "Franziskaner" hervorgehen.
Sie besitzen nichts.
Deswegen müssen sie sich
auch nicht absichern
und nichts verteidigen.
Es sind ihre Herzen,
ungeschützt und offen,
die ihnen zum Markenzeichen werden.
Einmal versetzt ein Wolf eine ganze Stadt in Angst und Schrecken.
Franz von Assisi geht ihm entgegen.
Er nennt ihn Bruder, verspricht, für ihn zu sorgen und zähmt ihn.
Die Menschen der Stadt machen mit,
nach und nach, und versorgen das Tier reihum.
Noch zwei Jahre lebt der Wolf friedlich weiter,
bis er an Altersschwäche stirbt.
Als der Papst im Heiligen Land gegen
die Muslime in den Krieg zieht,
macht Franz von Assisi sich auf die lange,
beschwerliche Reise dorthin -
um den Dialog zu suchen.
Unbewaffnet und ohne zu
wissen, was ihn erwartet.
Sultan al-Kamil empfängt ihn,
sie kommen ins Gespräch.
Fruchtbar soll es gewesen sein,
ihr Miteinander.
Wie mutig. Von ihnen beiden.
Heute vor einem Jahr
wurde in Ägypten
an dieses Treffen vor 800 Jahren erinnert.
Heute denke ich einmal mehr daran,
dass damals zwei in den Dialog gingen,
ohne all die Hilfsmittel,
die fürs Kommunizieren und fürs Reisen
heute zur Verfügung stehen.
Mir scheint:
Da wollten zwei in den Dialog gehen.
Da hatten zwei die Tiefe und die Weite,
um einander begegnen zu können.
In all ihrer Unterschiedlichkeit.
Ohne sich absichern oder verteidigen zu müssen.
Sondern um voneinander zu hören und zu lernen.
In seinen Vierzigern wird Franz von Assisi krank.
Fast blind und mit furchtbaren Schmerzen
liegt er in einer Schilfhütte
und schreibt eines der bekanntesten
Gebete der Menschheit,
den Sonnengesang.
Darin nennt er Sonne,
Mond und Sterne seine Geschwister.
Lüfte, Wolken und Wetter jeder Art heißt er willkommen.
Er spricht von Vergebung und begrüßt den Tod als seinen Bruder.
Und dann stirbt er, wie er gelebt hat.
Mit einem Lied auf den Lippen.
Franz von Assisi hat Liebe wachsen lassen.
Von ganz unten.
Seine Lebensgeschichte lässt mich fragen,
wo ich stehe,
und wie ich weiter gehen kann
und tiefer.
Es gilt das gesprochene Wort.
© Text: In Anlehnung an Stephanie Brall et al, Leben lieben: Kreative Inspiration für Feiertage, Allerweltstage und Lieblingstage. bene! Verlag. 2019. ISBN 978-3-96340-049-0