gemeinfrei via unsplash / Anandhu
Himmelsdurchschreiter
Der Himmel – voller Wunder und Schrecken
24.05.2025 06:35
Als Kind im Gras liegen und Wolken anschauen. Nicht alle Kinder können das. Einige haben beim Blick nach oben Angst, dass vom Himmel Bomben fallen.
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Als der Wal zum Drachen wurde, läuteten die Glocken. Die Sonne stand hoch. Ein paar große weiße Wolken zogen in Ruhe durch das Himmelsblau. Unten auf der Erde lag ich als kleiner Junge auf einer Wiese und schaute zu, wie die Wolken sich formten. Die eine war ganz eindeutig ein Wal mit kräftigem Leib, Flossen an der Seite und einer imposanten Schwanzflosse. "Fluke" heißt sie. Ich war als Junge stolz, dass ich das wusste.

Aber dem Wolken-Wal da oben wuchsen langsam Zähne im Maul. Die Finne auf seinem Rücken wurde immer zackiger und entwickelte sich zu einem ganzen Zackenkamm vom Kopf bis zum Schwanz. Und was vorher Flossen waren, sah auf einmal aus wie Klauen. Da flog ein Drache in einem unendlich blauen Himmel über mich her.

Die Kirchenglocken läuteten. Das war das verabredete Zeichen: Zeit zum Mittagessen. Die Himmelsschau war beendet. Ich stand aus dem Gras auf und ging nach Hause. Der Himmel über solchen Wiesen ist voller Wunder. Als Kind konnte ich oft und stundenlang darüber staunen. Heute als Erwachsener mache ich das selten.

Aber es gibt im Lauf des Älterwerdens noch andere Gelegenheiten, in der Wiese zu liegen und nach oben zu schauen. Frisch verliebt liegt man zu zweit unter einem solchen Himmel und ist dann auch ein bisschen abgelenkt. Später habe ich unsere Tochter in den Himmel geworfen. Ihr vergnügtes Quieken, als sie abhob, kurz im Blau schwebte und dann wieder in meinen Armen landete.

Der Himmel ist voller Wunder. In der Bibel gibt es ein Bild, das beschreibt Christus, der die Himmel durchschritten hat. (Hebräer 4,14) Sich sozusagen durch diese Wunder hindurch bewegt hat, von ihnen eingehüllt war. Ein wunderumwölkter Christus. So könnte man sich das vorstellen. Oder anders: Christus, mit Wundern im Schlepptau. Wie er die Wunder auf die Erde zieht an langen Schnüren aus Lichtglanz.

Aber der Himmel war und ist nicht nur voller Wunder. Er sah früher und sieht heute auch anders aus. Reels zeigen mir, wie Kampfjets über den Wolken durchs ewige Blau donnern, unter ihren Flügeln die tödliche Fracht. Ich höre von Drohnenschwärmen, die über Städte herfallen im Schutz der Nacht. Ich höre von nuklearen Schirmen, unter denen sich ganze Nationen kauern sollen. Ich lese von den Kindern in Charkiw, die acht Meter unter der Erde hinter einer 20 Zentimeter dicken Stahltür lesen und schreiben lernen.

Durchschreitet Christus auch diese Himmel? Durchzieht er dann die Trümmerlandschaften? Durchstreift er die Ruinenstädte? Findet er den Raum unter der Erde, wo die Kinder das Wort Frieden schreiben lernen? Мир. (Mir) Und Versöhnung? Примирення (Primirenja). Gnade? Благодать (Blahodatʹ). Lernen wir das noch gemeinsam? Und vor allem: Lernen wir das noch rechtzeitig?

An schlechten Tagen, wenn mich das Weltgeschehen besonders bedrückt und ich mir Sorgen um die Zukunft meiner Kinder mache, an solchen Tagen empfehle ich meinem Sohn einen systemrelevanten Beruf: Feuerwehrmann zum Beispiel. Weil ich nicht will, dass er in den Krieg ziehen muss. Diese Vorstellung macht mich ganz verrückt. Dann lese ich zur Sicherheit in unserem Grundgesetz nach und bin fürs Erste beruhigt. Da steht das Grundrecht: Aus Gewissensgründen kann jeder den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern.

Und ich bete, dass Christus, der die Himmel durchschritten hat, auch seinen Weg bis auf den Grund der Herzen von uns Menschen findet und wir eine neue Sprache lernen: Мир. Примирення. Благодать. Frieden. Versöhnung. Gnade.

Der Himmel klart auf. Den Drachen, die dort ihre Bahnen ziehen, fallen die Zähne aus, ihr Schuppenpanzer blättert. Die Glocken läuten. Es ist Zeit, aufzustehen.

Es gilt das gesprochene Wort.

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