In die Holzbalken einer Hütte in Schweden haben Wanderer ihre Namen, Jahreszahlen, kleine Botschaften eingraviert. Unser Autor entdeckt sie und ist in der einsamen Hütte auf einmal nicht mehr allein.
Sendung nachlesen:
In dieser Hütte merke ich auf einmal: Ich bin hier nicht allein. Das Licht, das sich durch das blinde Glas der kleinen Fenster presst, schafft es nicht bis in die dunklen Ecken. Die Holzbalken verlieren sich im Finstern. Aber ich habe meine Stirnlampe. Und ich fahre mit meinen Händen das blanke, harte Holz entlang. Meine Finger finden Kerben: Vokale, Konsonanten, Zahlen. Immer mehr Namen. Daneben: Orte, Heimaten, Kürzel. Sie zeigen: Vor mir waren viele andere da. Sie sind präsent, denn sie haben ihre Namen auf die Holzbalken geschrieben oder eingeritzt. Einige erst vor kurzem, andere schon vor vielen Jahrzehnten, als ich noch gar nicht geboren war.
Ich bin neugierig, wer hier noch alles war vor mir. Ich zwänge mich in die Winkel. Ich leuchte sie aus und finde Henrik und Ida, die in den letzten Tagen des September 2016 stark verliebt gewesen sind. Ein sauber geschnitzter Schwur. Ein Herz. Ich sehe Blumen eingraviert. Ob man hier einen Geburtstag gefeiert hat? Helmut war hier, aus West-Germany. Die älteste Inschrift datiert von 1930. Ich finde sie auf dem Holz der Tür und vermute: Der hier war einer der Ersten, der in die Hütte eintrat, Feuer machte, aß, schlief. Wie hat dieser Mensch gelebt? Was war sein Glück? Was war seine Trauer? Wie ist er gestorben?
Christoffer, Una, Patrik. Ich entziffere weitere Namen. Ich flüstere sie. Ich rufe sie leise in die Dunkelheit hinein. Vor langer Zeit eingraviert sind ihre Namen jetzt da, gegenwärtig an diesem Abend, an dem draußen der Wind um die Hütte streicht und drinnen das Feuer im kleinen Ofen langsam die klamme Kühle hinaustreibt.
Immer mehr Namen. Es wird langsam voll hier drin. Mit jeder Namensnennung lade ich jemanden ein, Platz zu nehmen. Eine Fülle von Geschichten, Schicksalen, Anekdoten. Ein Wispern, Raunen, Zusammenrücken. In der Wärme des Ofens schmilzt dieser Tag in die Ewigkeit hinein.
Ein altes Bild aus der Bibel: Gott hat die Namen der Menschen in seine Hand geschrieben. So hat er sie immer vor Augen. Keine und keiner geht verloren. Nicht ein einziger Mensch. Alle Geschöpfe, die Gott beim Namen gerufen hat. In der Bibelstelle sagt Gott: "Ich will dich nicht vergessen." Und fordert auf: "Hebe deine Augen auf und sieh umher: Diese alle sind versammelt und kommen zu dir."
Ich mag diese Vorstellung: Gott versammelt uns. Alle sind miteinander verbunden. Wir bilden eine große Gemeinschaft, eine Menschheitsfamilie und mehr noch eine Schöpfungsfamilie. Über die Entfernung von Raum und Zeit hinweg. Durch die Zeit hindurch Richtung Ewigkeit.
Das ist mein Gefühl an diesem Abend in der Hütte mitten in Schweden. Und so, als würde ich Anspruch erheben auf dieses göttliche Versprechen, auch nicht verloren zu gehen, nehme ich mein Messer und ritze in das harte Holz eines Balkens, links oben neben die klapprige Tür, die Initialen meines Namens und das Jahr: MK 23. Ich befinde mich jetzt in guter Gesellschaft.
Es gilt das gesprochene Wort.
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage!