Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage!
Sendung zum Nachlesen
Vor dreizehn Minuten war es soweit. Da hat sich die Sonne in Berlin über den Horizont geschoben. Es ist heute, am Frühlingsanfang, das erste Frühlingslicht. Eine gute Gelegenheit sich auf den Balkon zu stellen, in den Garten oder auf dem Weg zur Arbeit kurz im Park anzuhalten. Die Sinne schärfen. Hören und Schauen.
Das war es, was Vincent tat. Im Vordergrund ein lederfarbener Falke, der auf einem mit Flechten überzogenen Felsen sitzt. Der Falke war auf dem Foto sofort zu sehen. Immer wieder ordnete der Fotograf die Bilder seiner letzten Reise. In Tibet war er auf der Suche nach dem Schneeleoparden gewesen. Ein seltenes, scheues, verborgenes Tier. Zurück in Frankreich betrachtet er jetzt in Ruhe das Bild mit dem Falken und traut seinen Augen kaum: Hinter dem Umriss des Felsens, für den schnellen Blick unsichtbar, schauen ihn die Augen des Leoparden an. Fels und Kopf des Tieres sind ineinander verschmolzen. Vincent erinnert sich. Er hatte den Focus seiner Kamera auf den Falken eingestellt, ohne zu merken, dass ihn der seltene Schneeleopard längst im Blick hatte. So erzählt es Sylvain Tesson in dem Buch Der Schneeleopard.
Jeden Morgen, nicht lange nach dem Aufstehen, stelle ich meinen Focus auf die Einträge im Kalender. Deutlich steht mir vor Augen, was mich am Tag erwartet. Ein Termin greift in den nächsten. Die Aufgaben werden zu Gewissheiten. Telefonate,
E-Mails, Gespräche. Die Geschichte mit dem Schneeleoparden löst mich aus meinen Aufmerksamkeitsroutinen. Was hält dieser Tag für mich bereit an den Rändern meiner Wahrnehmung und im Hintergrund? Du bist ein Gott, der mich sieht. Das ist die biblische Losung für dieses Jahr. Sie ist vor allem ein Versprechen. Gott wird mich sehen. Gott verliert mich nicht aus dem Blick. Sein Blick hält mich. Ich kann aufbrechen und losgehen. In diesen Tag. In diesen Frühling. Und es ist wie beim Fotografen, der seine Bilder durchsieht. Es wird so sein, dass ich Gott suche, den so oft verborgenen und leisen Gott im Lärm der Welt und im Rasen der Zeit. Ich denke: Sieht er mich in meinen Sorgen, vor meinen Problemen, unter den Bergen von Arbeit, die meine Aufmerksamkeit binden, all dem Gesetzten und Gegebenen? Ja, da ist jemand, der mich fest im Blick hat. Gott ist da. Oft eine flüchtige Nähe. Immerhin. Am Frühlingsanfang also die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit zu schärfen auf die Randgebiete meiner Wirklichkeit. Eine geistliche Übung. Yoga für die Seele, sozusagen. Den Blick losmachen und Gott entdecken. Er hat mich längst gesehen.
Es gilt das gesprochene Wort.