gemeinfrei via pixabay / Pavlofox
Kriegsrelikt
Die Welt durch ein Zielfernrohr
19.05.2025 06:35
Das Zielfernrohr eines Panzers. Der Vater unseres Autors hat es als Kind in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs gefunden. Der Sohn will es nicht für seine Kinder aufheben. 
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Das Ding wog schwer. Ein Rohr aus Stahl. Ein halber Meter. Armdick. An beiden Enden abgewinkelt und mit einer Linse verschlossen. Wenn man es hochhob, gut ausbalancierte und am unteren Ende hineinschaute, sah man die Welt von etwas oberhalb. Aber seltsam, diese Striche und Zahlen. Waren da Zahlen? Jedenfalls ein Kreuz. Ein Fadenkreuz. Ich konnte die Dinge anpeilen und ins Visier nehmen: Bäume, Häuser, Autos, Menschen.

Das Ding kam aus dem Fundus meines Vaters, ein Relikt aus einer nicht fernen Vergangenheit. Er hat es als Kind irgendwo gefunden, auf einem seiner Streifzüge durch das Hinterland Berlins. Es war das Zielfernrohr eines Panzers, durch das einst ein Soldat auf die Welt als Schlachtfeld sah. Ich war neun Jahre alt, als mein Vater mir das Ding in die Hand gab, mir half, es zu halten, und mich hindurchschauen ließ.

Im Nachhinein überlege ich: Wie viele Bilder hat wohl das Licht durch dieses abgewinkelte Rohr transportiert? Das Licht wird gebrochen und durch eine komplizierte Optik über Spiegel und Linsen ins Innere geleitet. Bis es schließlich auf der Netzhaut des Richtschützen ankommt, eines Leutnants oder eines Gefreiten. Es zeigt ihm: Da bewegt sich was. Da ist ein Ziel, auf das ich schießen kann.  

Wie viel Tod brannte sich da ein? 75 bis 80 Millionen Menschen, je nach Schätzung, verloren ihr Leben im Zweiten Weltkrieg. Direkt beim Kämpfen und bei Bombenangriffen. Oder indirekt durch die Folgen des Krieges, durch Hunger und Krankheiten. Der Kontinent ein weites Feld voller Totengebeine. Überhaupt unsere Erde. Man gräbt und findet: Knochen, Pfeilspitzen, eingeschlagene Schädel, Koppelschlösser, durchschossene Helme. Du gehst und läufst und kommst um die Schlachtfelder nicht herum. Stehst mitten drin.

Heute vor 80 Jahren war der Frieden in Europa elf Tage alt. In Asien war der Weltkrieg noch nicht zu Ende. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki waren noch nicht abgeworfen. Und heute? Ach Charkiw. Ach Odessa. Es ist zum Verrücktwerden. Dass das immer wieder von vorne beginnt. All die Toten! Es muss doch endlich etwas Neues kommen!

In der Bibel gibt es diese Geschichte, in der Gott den Propheten Hesekiel auf ein weites Feld voller Totengebeine führt. Wo er hinschaut, Knochen. Längst verdorrt. Ein toter Ort. Gott sagt zu Hesekiel: "Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden?" Und dann gibt Gott den Auftrag: "Sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, so spricht Gott: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet." 

Mit dieser Erzählung stehen wir am Anfang. Mit nichts als der Hoffnung, dass Gottes Versprechen nicht nur für damals gilt. Dass Gott tun wird, was er einmal versprochen hat. Ich vertraue darauf: Mit Gottes Odem ist ganz Neues möglich. Ich halte an der irrwitzigen Hoffnung fest: Der Krieg hört auf. Frieden kommt. Nicht noch mehr Tote. Eine Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden sich küssen, wie es an anderer Stelle in der Bibel heißt.   

Es kann die Zeit beginnen, in der Väter ihren Söhnen nicht die Relikte der Schlachtfelder weitergeben. Die Utensilien zum Töten bleiben besser in den Trümmern liegen. Das Panzerzielfernrohr habe ich nicht aufgehoben. Irgendwann ist es mit dem Sperrmüll abtransportiert worden.

Ich will nicht, dass kommende Generationen die Welt durch Zielrohre als Schlachtfeld sehen. Statt auf den schweren Stahl, aus dem das Rohr gemacht ist, hoffe ich auf Gottes Geist leicht wie Luft. Er weht übers Totenfeld und haucht neues Leben ein. Glaube hat eine raffinierte Optik. Glaube sieht schon, was noch kommt. Es ist das Leben und der Frieden.

Es gilt das gesprochene Wort.

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