Wort zum Tage
Dann werden die Steine schreien
04.06.2020 06:20
Sendung zum Nachlesen

Ein ganzes Menschenleben ist es her.

Vor 75 Jahren wurde Deutschland vom Faschismus befreit.

Diejenigen, die aus erster Hand erzählen können, werden weniger; und bald wird es sie nicht mehr geben.

Zum Glück gibt es sie noch, die erzählen können und das auch tun. In meiner Gemeinde höre ich viele solcher Geschichten. Kindheit im Krieg. Das Warten auf den Vater. Aufwachsen in Trümmern. Sie können noch erzählen. Zum Glück.

Viele können nicht mehr erzählen: Weil sie von unseren Vorfahren umgebracht wurden. Die wenigen, die den Terror unserer Eltern, Großeltern und Ur-Großeltern überlebt haben, sterben aus.

Was ist, wenn dann niemand mehr erzählen kann?

"Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien." Mir geht dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf. Jesus hat ihn bei seinem Einzug in Jerusalem gesagt: "Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien".

Ja, wenn niemand mehr erzählen kann, dann schreien die Steine. Die Gedenkstätten und die Museen; auch die Fotos und die Tagebücher. Aber die schreien leise. Sie sind angewiesen auf Ohren, die hören.

Ich spaziere über die Gedenkstätte Berliner Mauer, auf der unsere kleine Kapelle der Versöhnung steht, zu unserem Gemeinschaftsgarten, der hinter der Kapelle auf dem ehemaligen Todesstreifen blüht. "Niemandsland" heißt er.

Der Garten Niemandsland blüht auf einem Teil des alten Friedhofs, der beim Mauerbau abgetrennt und zum Todesstreifen wurde. Auf dem Mauerstreifen erzählt ein Kreuz von den Massengräbern, derer, die in den letzten Kriegstagen in Berlin starben. Direkt daneben erinnert ein Stein an alte jüdische Gräber, die fehlen.

Die Steine schreien in verschiedenen Tonlagen. Und manchmal schreien sie neben- und durcheinander. Es ist schwer auszuhalten.

Die Steine erinnern mich daran, was möglich ist, zu was wir Menschen fähig sind. Sie erinnern mich daran, dass Befreiung keine Einbahnstraße ist.

Und sie erinnern mich daran, dass Befreiung möglich ist. Dass Neues möglich ist. Dass hier ein Garten wachsen kann, der die Geschichte, der den Terror nicht überwuchert. Ein Garten, der mich einlädt zu bleiben, mich nicht vor der eigenen Geschichte und der Geschichte meiner Vorfahren wegzudrehen, sie nicht zu verleugnen oder zu verdrängen. Dieser Garten lädt mich ein zu bleiben, genau an diesem Ort, der die Verletzungen so deutlich zeigt. Ihn auf mich wirken zu lassen. Ihn auszuhalten. Mich auszuhalten.

Ein Ort, wo Verletzungen und Schuld sein dürfen, wo ich es mit mir aushalte und wo Neues wachsen kann, das ist für mich Gott.

 

Es gilt das gesprochene Wort.