Morgenandacht
Wozu Kirche?
18.08.2020 06:35
Sendung zum Nachlesen

„Ihre Beiträge im Radio sind zu politisch!“ schreibt mir manchmal jemand, „kein Wunder, dass die Menschen aus der Kirche austreten. Die Kirche ist für die Seele zuständig, nicht für die Politik.“

„Ihre Beiträge sind zu unpolitisch und zu fromm!“ schreiben andere, „kein Wunder, dass so viele aus der Kirche austreten. So eine belanglose Kirche braucht niemand.“

 

Es ist wahr: im vergangenen Jahr sind über eine halbe Million Menschen aus den Kirchen ausgetreten. Sicher nicht alle wegen meiner Beiträge. Aber natürlich ist das für jemanden wie mich erschreckend. Ich weiß ja auch: Der Missbrauchsskandal ist unerträglich. Und in meiner Kirche geht manches schrecklich langsam und zu vieles ist rückwärtsgewandt. Aber ich weiß auch: viele möchten, dass alles so bleibt, wie es immer war: die Lieder im Gottesdienst, die vorbildlichen Pfarrfamilien, die braven Konfirmanden in der ersten Reihe und volle Kirchen. Obwohl früher so manches sicher bloß besser verborgen war. Auch da gab es unglückliche Pfarrfamilien, die Konfirmanden waren früher vielleicht bloß eingeschüchtert. Und zur Kirche ging man vor allem, weil sich das so gehört hat und niemand ins Gerede kommen wollte. Das früher alles besser war in den Kirchen und Gemeinden: Diese Vorstellung geht mir manchmal ziemlich auf die Nerven.

 

Trotzdem meine ich: Weglaufen ist keine Lösung, auch wenn es gerade im Trend liegt, aus der Kirche auszutreten, besonders für junge Leute. Viele von ihnen fragen: Warum soll ich mich engagieren und die Kirche verändern? Ich brauche die Kirche nicht. Ich lebe auch ohne gut. Sicher ist: Viele Ausgetretene glauben auch. Aber ich meine, damit man nicht stecken bleibt in dem, was man denkt und glaubt, braucht man andere. Die Zeiten ändern sich und damit auch die Fragen. Und die Antworten findet man nicht ganz allein. Ich bin überzeugt: dazu braucht es eine möglichst bunte und vielfältige Gemeinschaft, in der Fragen gestellt und Antworten gesucht werden. In der ich auch meinen eigenen Glauben hinterfragen lasse, damit ich mich nicht in Geheimwissen und Verschwörungstheorien verrenne.

 

Glauben braucht für mich das Gefühl, nicht allein zu sein. Glauben braucht Unterstützung. Jemanden, der für mich betet, wenn ich es nicht mehr kann. Jemanden, der für meine Seele sorgt. Der mich tröstet und mir von der Welt erzählt, die Gott ‚sehr gut‘ findet. Damit ich an die Zukunft glauben kann. Und auf Menschen vertraue, mit denen zusammen ich Wege suchen kann zu einer Welt ohne Hass und Gewalt. Menschen, die mir Mut machen, wenn ich meine: Es ändert sich ja doch nichts.

 

In meiner Gemeinde in Stuttgart beten wir seit 6 Jahren für den Frieden. Jeden Montagabend. Angefangen haben wir während des Ukrainekriegs. Und wir sehen: Immer wieder und immer neu gibt es Anlass, für den Frieden zu beten. Verhindert haben die Gebete für den Frieden wohl keinen Krieg. Aber sie haben mir und den anderen Mut gemacht. Wir erinnern uns gegenseitig – Gott ist für den Frieden. Gewalt und Krieg vernichten Leben. Und Gott ist ein Freund des Lebens.


Für den Frieden zu beten, hilft, sich das immer neu klar zu machen und sich gegenseitig darin zu bestärken. So wie sie es damals in den 80er Jahren in Leipzig getan haben. Jahrelang haben sich Menschen in Friedensgebeten gegenseitig erinnert, dass Jesus gesagt hat: „Selig die Armen!“ Und nicht: „Nur wer Geld hat, ist glücklich“. Sie haben sich erinnert, dass er gesagt hat: „Liebe deine Feinde!“ Und nicht: „Nieder mit dem Gegner“. Offensichtlich hat sich das damals rumgesprochen. Und es war für die Menschen so einleuchtend und ermutigend, dass sich immer mehr zum Beten trafen. Nach dem Gebet protestierten sie auf der Straße. Und irgendwann ist es passiert. Das Unrechtssystem der DDR ging zu Ende. Ohne Gewalt.


In der Kirche ermutigen sich Menschen gegenseitig. Dafür brauche ich sie. Glauben und Handeln gehören dabei für mich zusammen. Keins von beidem geht allein. Der Weltgebetstag der Frauen bringt das so auf den Punkt: Informiert Beten. Und betend Handeln. Für mich, meine Nächsten und eine bessere Welt.