Liebe Gemeinde,
zwei Jünger gehen nach Hause, nach Emmaus. Ihre Herzen sind schwer, ihre Gedanken bei ihrem Rabbi, mit dem sie die letzten Jahre verbrachten, der ihnen alles beigebracht hatte über die Liebe zum Nächsten, die Gemeinschaft der Apostel und das Reich Gottes. Sie kannten ihn gut und können sich an alles erinnern. Sie kennen sein Leben und ihr Leben mit ihm, sie können in diesem erlebten Leben, in dieser Gemeinschaft lesen wie in einem Buch. Da tritt einer herzu und beginnt mit ihnen zu reden. Er spricht mit ihnen auch über das Buch, in dem ihr Meister gelesen hat, aus dem er gebetet hat, das Buch der Geschichte, der Propheten und der Psalmen. Sie reden miteinander, erzählen und hören ihm zu. Doch sie verstehen nicht und erkennen nicht. Sie können das Buch nicht lesen und den Auferstandenen nicht sehen.
Der Predigttext für Ostermontag spricht auch von einem Buch, dem Buch mit den sieben Sie-geln. Von diesem Buch wird gesagt: „Niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. (Off 5,3) Und das ist gut so! Das ist gut so, um unserer selbst willen. Ein Buch lesen zu können, in dem alles verzeichnet wäre, all unsere Freuden und Lieben, aber auch all unsere Ängste, all unsere Sorgen, alles, was wir getan und unterlassen haben, wo wir gefehlt und enttäuscht haben, wäre eine zu schwere Kost für unser Herz und unsere Vernunft. Ein solches Buch macht Angst. Eine Angst, die den Mönch Martin Luther gequält hat, als er Angst um sein Seelenheil hatte: „Da war ich der elendeste Mensch auf Erden; Tag und Nacht war da nichts als Heulen und Verzweifeln, das mir niemand abweh-ren konnte“. Könnten wir im Buch mit den sieben Siegeln lesen, dann wüssten wir alles über uns selbst, alle Abgründe und Untiefen. Unser Herz und Hirn könnten es nicht fassen.
Wir wüssten aber nicht nur alles über uns, sondern auch alles voneinander. Das ist eine Vor-stellung, die uns erschauern lässt. Wir könnten unterscheiden, was gut und böse ist, uns sel-ber zu moralischen Richtern aufschwingen, die genau wissen, wer dazugehört, wer auf der Seite der Schafe zu stehen kommt und wer auf der Seite der Böcke. Letztlich wäre der, der das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen weiß, in der Lage, Gericht zu halten über die Men-schen. Einer könnte sich über den anderen aufschwingen und sich über sie erheben. Alle Ver-suche, von denen auch die Kirche nicht frei ist, zu meinen, man wüsste sich hier auf Erden im Besitz der allein gültigen Wahrheit und des Rechts, über andere zu urteilen, endeten im Elend und in der Gewalt. Deswegen ist es gut, dass das Buch mit den sieben Siegeln für uns ver-schlossen bleibt. Doch das Buch bleibt nicht verschlossen.
„Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand des-sen, der auf dem Thron saß. Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Wesen und die vier-undzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen und hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht.“ (Apk 5,6-10a)
Das Lamm, so heißt es, kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. Der gekreuzigte Christus, der auch als Auferstandener noch die Wundmale seines Sterbens und Leidens trägt, ist der Einzige, der das Buch mit den sieben Siegeln öffnen und lesen kann.
INTERLUDIUM
Das Lamm, das getötet wurde, versichert uns durch seine Existenz: Es gibt ein Leben, das nicht auf Kosten anderen Lebens lebt, ein Leben, wo nicht der Schwächere für die Stärkeren geopfert wird. Ein Leben, in dem Menschen von sich etwas opfern – zugunsten derer, die schwächer sind. Das ist die Botschaft des Lammes.
Gott ist in Jesus Mensch und Christus geworden, weil ihm keine Erfahrung des menschlichen Lebens fremd ist, weil er, obwohl Gott alle Abgründe des Menschseins durchlebte, weil er nicht der Fremde in der Ferne der Himmel geblieben ist, sondern für uns gelitten und gestor-ben ist, deshalb ist er, ist das Lamm, der Auferstandene, der Einzige, der das Buch mit den sieben Siegeln öffnen und lesen kann. Und das ist gut so.
Es ist gut für jeden Einzelnen von uns. Denn wir erkennen unsere eigene Existenz, unser Leben in all seinen Höhen und Abgründen im Lichte des Lammes, im Glanz des Auferstandenen.
Die Jünger in Emmaus erkannten Jesus, ihren Meister, als er mit ihnen das Brot brach und es ihnen gab. „Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.“ Es ist Christus, das Lamm Gottes, das sie erkennen lässt. Das sie sich auch selbst er-kennen lässt, neu erkennen lässt, im Licht der Gnade und Barmherzigkeit des Lammes. Der Auferstandene, Christus, das Lamm Gottes, ist der Einzige, der das Buch mit den sieben Sie-geln öffnen und lesen kann und uns verstehen lässt, auch einer den anderen verstehen lässt, als Gemeinschaft erkennen lässt. Indem die Jünger den Auferstandenen in Emmaus erkennen, erkennen sie sich auch selbst als Neugeborene, im Licht der Gnade und der Barmherzigkeit. Sie erkennen sich als Schwestern und Brüder, nicht mehr als Einzelne, die sich über andere erheben oder über andere richten könnten. Wir sollen dahin kommen, dass alle Menschen Kö-nige werden, dass alle erleben können: Sie sind unendlich viel wert, und dass keiner den an-deren unterdrückt und sich für wertvoller hält als einen anderen Menschen.
Christus, das Lamm Gottes, der Auferstandene, öffnet das Buch mit den sieben Siegeln, lässt uns das Buch des Lebens mit neuen Augen lesen, im Licht der Gnade und der Barmherzigkeit des Lammes. Wenn Jesus in unser Leben einzieht, dann können wir auch unser Leben neu le-sen. Wenn er in dein Leben einzieht, dann liest sich dein Leben neu. Dann bist du unendlich viel wert, auch wenn in deinem Leben noch so viel schiefgegangen ist. Dann bist du ein Ab-schnitt im Buche Gottes. Und du darfst es nicht nur lesen. Du darfst es zu Ende schreiben. Darum bitte ich dich heute: Schreibe in das Buch deines Lebens auch die Geschichte von Jesus hinein. Dann wirst du deine eigene Geschichte mit anderen Augen lesen. Du wirst nach wie vor viel Fremdes, Schmerzliches und Peinliches in deinem Lebensbuch lesen. Aber du brauchst dich deshalb nicht zu schämen. Du wirst lesen, wie du manchmal Täter und manchmal Opfer warst. Du wurdest von anderen weggeschubst, aber manchmal hast du auch andere wegge-drückt. Und du bist schuldig geworden. Aber wenn du die Geschichte von Jesus einschreibst in das Buch deines Lebens, dann erhältst du Gewissheit: Dir ist vergeben.
Wenn du die Geschichte Jesu hineinschreibst in das Buch deines Lebens, dann wird es eine
gute Geschichte. Denn der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort.