Während einer Reise in Kenia begeisterte mich eine Tanzaufführung von gehörlosen Schülerinnen. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, wie sie diese koordinierten, streng rhythmischen Bewegungen ausführen konnten, ohne die begleitenden Trommeln akustisch zu vernehmen. Aber sie brauchten ihren Gehörsinn nicht dazu, ließ ich mir später erklären. Hierzu waren andere Sinne gefordert: Über die Hohlräume im Körper konnten sie die Vibrationen der Trommeln wahrnehmen. Sie spürten den Takt und den Rhythmus an ihrem Körper. Für sie wurde die begleitende Trommelmusik zu einer Fühlmusik. Das erklärte zugleich, wie die Instrumentalisten, die allesamt ebenso gehörlos waren, es schafften, ein koordiniertes Zusammenspiel zu meistern.
Diese faszinierende Momentaufnahme veränderte vorübergehend meine Sichtweise auf Behinderung im Allgemeinen und im Besonderen auf die Gehörlosigkeit. Eine Behinderung wollte ich nicht mehr als böses Schicksal sehen. Ihre einschränkende Macht schien mir deutlich begrenzter zu sein als ich mir das vorgestellt hatte. Doch das war, zumindest im Hinblick auf die Gehörlosigkeit, ein Trugschluss. Denn das, was mit der Fühlmusik erreicht wird, hebt die Tatsache nicht auf, dass Gehörlosigkeit die betroffenen Menschen in bedeutendem Ausmaß isoliert. Sie müssen auf dieses wertvolle Fenster verzichten, das ein funktionierendes Gehör bildet. Zahlreiche Erlebnisse, Informationen, die Stimmen ihrer Gegenüber finden keinen Zugang zu ihnen. Also können sie darauf nicht unmittelbar reagieren. Ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens bleibt ihnen unerreichbar.
Weltweites Engagement für einen Sinn
Der »Welttag des Hörens«, der jedes Jahr am 3. März begangen wird, wollte auch dieses Jahr erreichen, dass möglichst vielen Menschen Schwerhörigkeit oder gar Gehörlosigkeit erspart bleiben. Das Motto lautet: »Hörvorsorge ab 50 – ICH geHÖRE daZU!« Hinter dem Ausrichten dieses Aktionstags steht unter anderem die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie arbeitet mit zahlreichen Expertinnen und Experten zusammen, um die Menschen weltweit auf Vorsorge und Versorgung hin zu sensibilisieren. So unternehmen sie es Jahr für Jahr, auf die Pflege des Topstars unter den Wahrnehmungssinnen aufmerksam zu machen. Unser Gehör verzeichnet tatsächlich außergewöhnliche Leistungen. Es ist nicht nur rund um die Uhr empfangsbereit, sondern es steuert auch unsern Gleichgewichtssinn. Weiter gilt es als unser wichtigstes Kommunikationsmittel.
Hören, eine Herzenssache
Wenn im biblischen Kontext von Hören die Rede ist, dann geht es oft um seine kommunikative Dimension. Das Alte Testament hebt das aufmerksame Hören hervor und lobt es als geeignete, wertzuschätzende Haltung eines Menschen. Darum heißt es in Sprüche 18,13 »Gibt einer Antwort, bevor er gehört hat, ist es Torheit und Schande für ihn.« Das rechte Hören beinhaltet die Bereitschaft zu gehorchen. Darum wird nicht das Ohr, sondern das Herz zum zentralen Organ hervorgehoben, wenn es um ein Hören geht, bei dem Gottes Weisung im Mittelpunkt steht. König Salomo betet zum Antritt seiner Regentschaft: »Darum schenke mir ein Herz, das auf deine Weisung hört, damit ich dein Volk leiten und gerechtes Urteil sprechen kann. Wie kann ich sonst dieses große Volk regieren?« (1. Könige 3, 9) Hiermit wird deutlich, dass das Hören Hand in Hand gehen soll mit dem Umsetzen des Gehörten im konkreten Leben. In Abwandlung eines überaus bekannten Zitats lässt sich sagen: Man hört nur mit dem Herzen gut.
Der aus dem Alten Testament bekannte Aufruf »Höre Israel« lenkt das Volk auf die Rezeption einer Rede Gottes. Gottes gesprochenes, zu hörendes Wort in Form von Weisungen und Geboten, letztendlich Gottes Stimme fordert den Gehorsam der Hörenden. Aus Exodus 19,5 lässt sich sogar ableiten, dass dieser Gehorsam eine identitätsstiftende Rolle spielt. Denn das Volk wird dadurch zu Gottes Volk: »Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein.« Verweigerter Gehorsam aber wird nach Jeremia 3,13 mit Schuld gleichgesetzt: »Doch erkenne deine Schuld: Dem HERRN, deinem Gott, hast du die Treue gebrochen und du bist deine Wege zu den fremden Göttern gelaufen unter jeden üppigen Baum, auf meine Stimme aber hast du nicht gehört - Spruch des HERRN.«
Hören verlangt einen dynamischen Umgang
Das Alte Testament hebt damit den zentralen Aspekt im Wesen des Hörens hervor. Ein Aspekt aber, der in seiner Natur zeitlos ist. Hören gehört zur Geschichte des Menschen und es macht sie dynamisch. Wer hört, wird zugleich beauftragt, zu antworten, zu reagieren und das Gehörte umzusetzen. Hören ist eine Aufforderung, mit dem Gehörten umzugehen, es in die Fortführung der Geschichte zu integrieren. Beschwerlich ist, die Flut der »hörbaren« akustischen Impulse und Signale, denen der Mensch im Alltag ausgeliefert ist, zu kanalisieren und daraus Umsetzbares herauszusieben. Zudem ist wirkliches Hören ein komplexes Geschehen, das einen dynamischen Umgang verlangt. Es muss gleichzeitig die individuellen Orientierungen des Hörenden, die Quelle des zu Hörenden und seine inhaltliche Ausrichtung berücksichtigen. Doch es bleibt zugleich eine Verpflichtung. Wer hört, ist dafür verantwortlich, dass auf das Gehörte reagiert wird.