Gottesdienst
Halleluja
Gottesdienst aus der Christianskirche in Hamburg-Ottensen
04.10.2015 10:05

Friede sei mit euch und Gnade von dem, der da ist, der da war, und der da kommt. Amen.

 

 

Es ist groß geworden. In diesen Tagen ist es nicht mehr wegzureden. Es ist groß geworden – dieses fremde und verdammt gute Gefühl, dass nicht alles gut sein muss, um Danke sagen zu können. Die Paprikapflanzen, die so gut im Balkonkasten gedeihen, haben dich daran erinnert. Dein Leben hat Hand und Fuß. Es hat doch irgendwie Hand und Fuß. Trotz allem.

Im Frühjahr vor einem Jahr. Von einem Tag auf den anderen warst du allein. Schockstarre. Du hast dir eingeredet, was man sich halt so einreden lässt. Dass alles seine Zeit braucht. Und überhaupt, dass man ja immer erst viel später weiß, was gut für einen gewesen ist. Irgendwann hast du gedacht: Wenigstens bin ich sicher. Abgesichert. Die Eigentumswohnung fast abbezahlt und mehr Notgroschen auf der Bank als nötig. Abgesichert. Dazu der kleine Balkon mit dem grandiosen Blick über den Fluss, ein paar Regalmeter gute Bücher, das Gesamtwerk deines Lieblingsgeigers auf CD. Das hat dich getröstet. Naja, ein wenig. Du hast dann ein paar Tomaten gepflanzt auf dem Balkon, Basilikum, Majoran – und Paprika. So wie jedes Jahr. War aber alles mickrig. Bis auf die Paprikapflanze, die war klein, hatte später aber ein paar schöne Früchte dran. Immerhin, hast du gedacht. Eher trotzig als glücklich.

Ein paar Monate später hast du gelesen, es ist ein großes Missverständnis, zu glauben, dass man immer erst etwas haben muss, bevor man kreativ sein kann. Also erst die Doppelhaushälfte und dann heimwerken. Erst auf einen neuen Computer sparen und dann Kurzgeschichten schreiben. Ein Missverständnis, wissenschaftlich belegt. Da ist dir klar geworden, dass das mit der Absicherung ziemlich hohl ist. Denn fröhlich macht einen so eine Eigentumswohnung ja nicht. Genauso wenig wie die Notgroschen und das kleine Erbe von deiner Oma. Eher träge. Und der erhebende Blick über den Fluss? Nach all den Jahren seltsam abgestanden. Reflexartig meldete sich dein schlechtes Gewissen. Bin ich jetzt undankbar? So viele wären überglücklich, wenn sie ein Dach über dem Kopf, warmes Wasser und all das hätten. Aber das half dir jetzt auch nicht weiter.

Deine Oma hatte immer diesen Satz gesagt: Damit die liebe Seele Ruhe hat. Wenn du Bonbons wolltest, gequengelt hast, und dann einen und dann noch einen bekamst. Damit die liebe Seele endlich Ruhe hat. Später wurden aus den Bonbons 5000 Mark. Es machte ihr überhaupt nichts aus, ihr Hab und Gut an die Enkel zu verteilen. Damit die liebe Seele Ruhe hat. Die Seelen der Enkel – aber, und das hast du erst später begriffen, auch ihre eigene. Ein anderer Herzenssatz von ihr war: Das letzte Hemd hat ja keine Taschen.

Deine Seele hatte auf jeden Fall keine Ruhe. Basta. Trotz Eigentumswohnung und Notgroschen. Das mit der Absicherung war eine Sackgasse. Führte weder zum Glück noch sonst wohin. Also hast du dich entschlossen, dein gut geheiztes Trauerhaus zu verlassen und nach den fehlenden Teilen in deinem Leben zu suchen, diesem Puzzle mit 1000 Teilen.

Du bist durch den Harz gewandert. Auf eigene Faust, das erste Mal in deinem Leben. Das war erst einmal ziemlich einsam. Später hast du dich einer Wandergruppe angeschlossen, das war wunderbar unkompliziert.

Du hast dann die alten Freunde besucht. Das war anstrengend. Das viele Reden, die unausgesprochenen Vergleiche, dein Leben, mein Leben, aber immerhin: seitdem schreibt ihr euch wieder regelmäßig.

Du hast wieder angefangen zu beten. Weil du ein Gegenüber brauchst. Weil sich da echte Gespräche entspinnen, die was mit dir machen. Nicht immer, aber manchmal. Das ist viel besser als Facebook.

Aus deiner Vier-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung hast du eine Wohngemeinschaft gemacht. Wenn schon Eigentumswohnung, dann können auch mehrere etwas davon haben. Jetzt wohnen Maxi und Maria und Ibrahim bei dir. Jeden Freitagabend kocht ihr zusammen.

Du hast Inventur gemacht. Bei dir zuhause – aber auch in dir drin. Es wäre zu viel gesagt, dass du glücklich bist. Aber du läufst wieder. Und deine Hände sind so gerne in Bewegung. Dein Leben hat doch Hand und Fuß. Die Paprikapflanzen, die du mit viel Liebe pflegst, haben dich daran erinnert. Auf deinem Balkon wächst jetzt nur noch Paprika. Wenigstens denen gefällt es da! Ja, du bist dankbar – nicht voll, aber halb.

Und seit Tagen hast du dieses Lied auf den Lippen. Es lief im Radio. Du singst es auf dem Balkon, in der Küche, vor dem Einschlafen. Es hat sich bei dir festgeklemmt.

 

 

Was hat er nur mit diesem Lied, habe ich mich gefragt. Ich mag es auch – aber, dass man es jetzt dringend übersetzen muss, hat mir nicht unbedingt eingeleuchtet. Aber: na gut – habe ich gedacht – na gut – Karl zu liebe. Schließlich war er in der Krise, Trennung und Neuorientierung und so. Und schließlich hat er mir ein Zimmer vermietet in seiner Wohnung – für ´n Appel und Ei, echt nett. Und gerade war sowieso WG-Abend und ich hatte nichts Besseres vor.

Also hab ich mich mit ihm hingesetzt, Ibrahim und Marie waren auch dabei, und wir haben nach dem Essen zusammen den Text übersetzt, weil Karl das Lied eben so mag: „Halleluja – lobt Gott. Da ist kein Unterscheiden vor deinem Angesicht – Halleluja, sei es heilig, sei es gebrochen.“

Am nächsten Tag am Bahnhof ist es mir wieder eingefallen – wir hatten es ja oft gehört. Ich summte es vor mich hin und es hat mich irgendwie froh gemacht – genauso wie das, was da passierte:

Menschen, so viele Menschen, die aus den Zügen stiegen: willkommen – endlich in Sicherheit. Zuflucht und Zukunft – wir schaffen das!

…und von mir ein bisschen Obst dazu, Lollys für die Kinder und zwei Paar selbstgestrickte Socken. Wie gut, etwas tun zu können. Nur eine kleine Geste.

Ich summte vor mich hin: „...kein Unterscheiden – sei es heilig, sei es gebrochen.“

Mir ist mein Großvater eingefallen: „Flüchten müssen, das möchtest du nicht erleben.“ – das hatte er immer gesagt und dabei am ganzen Leib gezittert. Ich war noch klein. Ich liebte meinen Großvater – und ich wollte nicht, dass er zitterte. Warum musste er das erleben, hatte ich mich damals schon gefragt…

Und jetzt hier: die Menschen am Bahnhof, in Sicherheit vielleicht, und willkommen geheißen, immerhin, ich stand ja auch dabei… Aber sie mussten das auch erleben: kein Zuhause mehr, nur ihre Klamotten am Leib und was sie im Rucksack tragen können und bestimmt jede Menge schreckliche Bilder im Kopf…

Wie grausam diese Welt sein kann – hab ich gedacht – und wie ungerecht:

Ich mit meinem warmen WG-Zimmer und wieviel Sorgen ich vorher hatte, weil ich schon solange gesucht hatte, weil ich nur so wenig Geld zur Verfügung hatte und und und –

Ich mit meinem warmen WG-Zimmer und hier: die vielen Menschen ohne Heimat.

Da wird doch wohl unterschieden – ist es mir in den Kopf geschossen – „heilig oder gebrochen“. Und was für einen Gott sollen wir überhaupt loben – hier in dieser ungerechten Welt?

Aber ich wurde es nicht mehr los, dieses Lied – es war einfach so da – der Klang und die Worte…

„Gerade wenn es scheint, als wäre ich gescheitert, so stehe ich doch vor dir, mein Gott, mit nichts auf meiner Zunge als Halleluja. Sei es nun heilig oder gebrochen. Denn Licht umgibt das Wort.“

Irgendwie hat mich das auch beruhigt – kein Unterscheiden – dann darf ja alles da sein, hab ich gedacht, alles, wovon mein Herz voll ist: meine Sorgen und das Zittern von Großvater, die Freude über mein Zuhause und dass die Menschen hier in Sicherheit waren – immerhin, und auch die Verzweiflung über unsere angeknackste Welt, die so grausam sein konnte und doch so schön.

Halleluja – vielleicht, hab ich gedacht, vielleicht ist das nicht nur der zuckersüße Engelsgesang, so wie der bei Youtube: in der Kirche, mit weißen Kleidern, goldenen Beschlägen und schönen Gesichtern. Vielleicht stimmt es auch am Bahnhof – Halleluja – gebrochen und verzweiflungsvoll und trotzdem irgendwie heilig und geborgen im Licht!

 

 

Dieses Lied, das geht dir nicht mehr aus dem Ohr. Mit Maxi hast du es gestern beim Abwasch gesummt. Unabhängig voneinander, fast zeitgleich, habt ihr damit angefangen. Sie kam vom Bahnhof, du vom Einkaufen. Dieses Lied, es ist wie ein Soundtrack, wie Filmmusik. Die Musik zu diesem Film, bei dem du mitspielst und Gott eine Hauptrolle hat.

Du bist dankbar für die Klarheit in deinem Kopf. So ein Halleluja – das heißt, Kontakt aufzunehmen. Das heißt, aus dir herauszugehen. Halleluja heißt nicht Ja und Amen. Ein Halleluja ist immer brüchig und immer heilig. Deinen Freunden versuchst du das zu erklären. Bei einem Halleluja gehören die schiefen Töne dazu. Man muss nicht immer „super!“ und „toll!“ in den Himmel rufen. Als ob Gott nicht ein wenig Gegenwind abkönne. Als ob Gott immer nur belobhudelt werden möchte.

So ein Halleluja, auch wenn es zaghaft ist, das ist ein Lebenszeichen. Das hält zusammen. Das ist wie ein Codewort und heißt: Hallo, bitte melden. Ich und du. Ich brauche dich. Und du brauchst mich doch sicher auch, oder?

Deine Hände streichen über die kleinen Paprika. Du musst lächeln. Und du hast Tränen in den Augen. Es ist groß geworden – dieses gute Gefühl, dass dein Leben Hand und Fuß hat. Dass es doch irgendwie Hand und Fuß hat. Man kann dankbar sein, auch wenn nicht alles gut ist.

Spätsommer? Früherbst? Die dicken Kürbisse und die Apfelpyramiden im Supermarkt sind dir ziemlich egal. Das Halleluja ist es dir nicht. Gebrochenes Halleluja, heiliges Halleluja – das sind zwei Seiten derselben Medaille.

Maxi, Maria, Ibrahim und du. Ein Stück Leben zu viert. Großes Kauderwelsch. Deutsch, Englisch und Arabisch – geteiltes Brot. Mit heiler Welt hat das trotzdem nichts zu tun. Haufenweise Probleme sind in deine Wohnung eingezogen. Aber du bist nicht mehr einsam. Du fühlst dich nicht mehr so leer und überflüssig.

Gott und du. Deine Mitbewohner und die vielen anderen. Das hat dich begründet. Ja, das klingt seltsam. Aber es stimmt: Das hat dich begründet. Du hast wieder Grund und Boden unter den Füßen. Halleluja. So – und so. Danke.

Amen.