Nie wieder wollte ich eine italienische Eisdiele betreten. In eine Pizzeria würde ich mein Lebtag lang keinen Fuß mehr setzen. Am späten Abend des 17. Juni stand für mich diese Lebensentscheidung fest. Heute vor 47 Jahren war das. Am 17. Juni 1970.
3:4 gegen Italien verloren. In der Verlängerung. Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko. "Jahrhundertspiel" hat man das Drama später genannt. Meine Güte, war ich enttäuscht! Sauer auf die Italiener, die so unverschämt jubelten und feierten!
Heute finde ich Italien toll. Meine Frau und ich erinnern uns gerne an unser italienisches Gastkind, das ein Jahr lang in unserer Familie gelebt hat. Auf den Besuch in Venedig haben wir uns mit einem Sprachkurs vorbereitet. Und Pizza, Pasta und Gelato? Mein Boykottbeschluss hat sowieso nicht lange gehalten.
Zeit verändert den Blickwinkel. Auch meine Urteile und Bewertungen.
Das wesentlich wichtigere Ereignis, das mit dem 17. Juni verbunden ist, fand 1953 statt. Der Volksaufstand in der DDR wurde von der Sowjetarmee blutig niedergeschlagen. In der Bundesrepublik war der 17. Juni fortan "Tag der Deutschen Einheit".
Was damals als mutig, aber doch auch als brutale Niederlage empfunden wurde, wird heute ganz anders bewertet: als sehr frühe Station auf dem Weg zur Wiedervereinigung nämlich.
Merkwürdiges Phänomen, die Zeit. Was sie alles verändert! Heilt sie alle Wunden, wie der Volksmund sagt? Vergeht sie im Alter schneller? Mein Opa hat das jedenfalls immer behauptet. Kann man in ihr reisen? Vor? Zurück?
In der Bibel heißt es: "Meine Zeit steht in deinen Händen".
Ein Satz aus Psalm 31. Der König David hat so gebetet. Ist auch schon ungefähr 3000 Jahre her.
Manchmal liest man diesen Satz auf Todesanzeigen. "Der Schöpfer des Lebens bestimmt auch den Zeitpunkt, an dem es zu Ende geht", soll das dann wohl heißen. Aber ich finde, darum geht es nur so nebenbei. Denn dies ist kein Spruch für den Friedhof, sondern ein Bekenntnis zum prallen Leben:
Zeit – das ist: geboren werden und sterben. Trauern und sich freuen.
Zeit – das sind genutzte und verpasste Gelegenheiten. Begegnungen und Einsamkeit. Glaube und Zweifel. Rausch und Nüchternheit. Streit und Versöhnung. Manchmal geklärte Beziehungen. Oft auch Verhältnisse, die offen geblieben sind.
Das ganze Leben halt.
Von unseren physikalischen und philosophischen Debatten zum Thema Zeit hat der biblische König David nichts geahnt. Ihm ging es um ein Bekenntnis: "Ich bin dem Lauf der Zeiten nicht einfach ausgeliefert. Da ist ein Gott, dem kein Augenblick meines Lebens fremd ist."
Und wenn das Leben – meine Zeit – in Gottes Händen steht, und nicht allein in meinen, dann sind auch meine Bewertungen vorläufig. Und manchmal auch ganz falsch.
Das letzte Wort zu meinem Leben sprechen nicht diejenigen, denen ich etwas schuldig geblieben bin. Auch nicht die Leute, die es gut mit mir gemeint haben. Sondern der Schöpfer des Lebens selbst.
König David fand das befreiend. Die Vorstellung, er müsse am Ende seines Lebens ängstlich auf das Urteil des Jüngsten Gerichts warten, war ihm völlig fremd. "Du bist mein Fels, meine Burg", betet David im selben Gebet. Soll heißen: "Auf dich kann ich mich stellen". Und: "Wer sich auf dich verlässt, hat festen Boden unter den Füßen."
"Zeit ist das, was man an der Uhr ablesen kann". Albert Einstein hat das gesagt. Da war das Genie sicherlich ein wenig flapsig. Eine intelligentere Erklärung zum Wesen der Zeit habe ich auch nicht. Aber dafür eine Hoffnung, die ich mit David und vielen anderen zu allen Zeiten teile:
"Meine Zeit steht in deinen Händen."