Morgenandacht
Zur Schule gegangen
21.08.2018 06:35
Sendung zum Nachlesen

Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Günther und ich. Jetzt versuche ich zu fassen, was wir miteinander gelernt haben. Sechs Wochen ist es her, dass ich Günther begraben musste.

 

Über das Lernen in der Schule sagen einige, es gehe um den Er­werb von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Aber wir beide haben nichts erworben, das sich als Kompetenz zu Markte tragen ließe. Günter und ich sind vielleicht dem Leben auf die Spur gekommen. So etwas steht in keinen Lehrplan.

 

Damals, als ich anfing, Günther kennenzulernen, stand er kurz vor der Pension. Wir waren nicht in einer Klasse. Wir waren Lehrer. Auch Lehrer lernen, wenn sie zusammen zur Schule gehen.

 

Vor Jahren im November stehen wir vor der Buche, die Günther sich ausge­sucht hat. Der Waldboden duftet. Tropfen fallen durch das herbst­liche Blätterdach. Ich hatte zu Günther gesagt: "Wenn du willst, dass ich dich einst begrabe, dann möchte ich mehr von dir erfahren." So sind wir damals in den stillen Wald gefahren, zu dieser Bu­che. Dem Grabmal, das Günther sich ausgesucht hatte, für unbekannte Zukunft.

 

Günther und mich trennen zwanzig Jahre und viel mehr. Er, der Fachleiter für Mathematik, ich der Schulpfarrer. Ohne, dass uns je etwas verbunden hätte, haben wir zehn Jahre am gleichen Ort geschafft. Doch dann vertraut er mir sein Begräbnis an. Er bittet mich, das letzte Wort zu seiner Zeit auf Erden zu sprechen. Die Anfrage berührt mich. Sein Vertrauen geht mir nah. Ich will meine Sache gut machen. Und ich will Günther nahekommen.

 

Dabei wird – wer weiß – unsere Verabredung in Jahrzehnten erst zum Tragen kommen. Sein Vertrauen, seine Frage und meine Zusage: Sie verbinden uns in ungewisser Endlichkeit.

 

Seit jenem Novembertag im Wald bei der Buche sind sechseinhalb Jahre vergangen.

 

Wenn wir uns gesehen haben, dann war immer klar, dass es der Tod ist, der uns zusammenführt, und die Hoffnung auf ein Leben danach. Es hat mich Überwindung gekostet, seine Krankheit nicht zu verdrängen, den Kontakt nicht schleifen zu lassen. Aber nach jedem Besuch bei ihm war mir, als wären wir einander nähergekommen. Als hätten wir uns gegenseitig gestärkt.

 

Ich bin unsicher gewesen, worüber wir sprechen sollten. Wenn wir über den Alltag lachten, war mir, als ignorierten wir, weshalb ich da bin. Wenn wir die Hoffnung auf eine neue Behandlung teilten, war mir, als pfiffen wir im Wald. Und wenn wir dem Ster­ben ins Auge sahen, dann war es immer irgendwie zu früh, schon davon zu sprechen.

 

In der Züricher Übersetzung des 90. Psalms heißt es: "Lehre uns unsere Tage zählen, dass wir ein weises Herz gewinnen."

 

Ja, Tage zählen, das beschreibt am besten, was wir miteinander getan haben. Tage zählen, von denen man weiß, dass sie eine Variable sind, eine Unbekannte für uns, aber eine natürliche Zahl in Gottes Augen.

 

Tage zählen war schwerer Lernstoff. In Gedanken sind wir die Schuljahre rückwärtsgegangen. Haben erzählend gezählt: Wie war das noch? Und dann haben wir uns zaghaft vorwärts getastet. Zwischendurch sind wir immer wieder im Hier und Jetzt vorbeikommen, an einem Bier oder einem Schluck Wein.

 

So sind wir sind zusammen zur Schule gegangen, Günther und ich. Haben uns belehren lassen, mathematisch – theologisch.

"Lehre uns unsere Tage zählen, dass wir ein weises Herz gewinnen."

 

Ich habe mein Versprechen so gut ich konnte eingelöst, Jahre früher als einst gedacht. Vielleicht haben wir ein weises Herz ge­wonnen. Sowas steht in keinem Lehrplan.

 

In diesen Wochen beginnt ein neues Schuljahr. Schule ist so viel mehr als Unterricht. Sie erzählt vom Leben im Kleinen, manchmal im Mo­dell zum Ausprobieren, manchmal mit Erfahrungen auch von den Grenzen des Lebens.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.