Morgenandacht
Suchet mich!
25.08.2018 06:35
Sendung zum Nachlesen

In meinem Elternhaus hängt eine Lithografie: Von den Sprossen eines Gerüsts recken sich Arme und Blicke zum Him­mel. Frauen, Männer und ein Hund. Dicht gedrängt sprengen sie fast die Stäbe. Ihre Füße suchen nach Halt. Mit einem Fernglas und mit übergro­ßen Augen durchtasten sie die Nacht. Darunter ein Bibelvers: Gott spricht: "Suchet mich, so werdet ihr leben." (Am 5,4)

 

Heute sehe ich, wie Bild und Wort in Spannung zueinander stehen. Damals, vor vielen Jahren, war ich einfach fasziniert. Und so begann ein fruchtbares Missver­ständnis.

 

"Gott spricht: Suchet mich, so werdet ihr leben!". Amos 5, Vers 4 – das war die Jahreslosung 1978. Die Lithografie dazu von Walter Habdank hing bei uns im Eingang. Bibelsprüche zieren Pfarrhäuser ja häufig, doch dieser klang anders. Keine fromme Ergebenheit, kein guter Hirte vor Auenland, auch kein Portrait von Martin Luther. Sondern zu Bild gebrachte Lebensnot, Gefangenschaft, nächtliche Gottessehn­sucht. Worte vom Suchen – nicht vom Finden.

 

"Suchet mich, spricht Gott, so werdet ihr leben." Heute weiß ich einzuordnen, dass Amos der Prophet das "mich" betont. Mich, sagt Gott den Eliten von Samaria und Bethel an, mich sollt ihr suchen, nicht ein falsches Leben in äußerem Reichtum, korrupt und bigott. Mich sollt ihr suchen, den Gott, der zusehen muss, wie ihr im Tor das Recht beugt und wie ihr den zum Verbrecher macht, der in meinem Namen Men­schen hilft. "Suchet mich, nicht euer Glück."

 

Doch damals lese ich die Worte anders, und das Bild von Walter Habdank stützt mein Missverständnis. Denn darin geht es ums Suchen. Suchen und Le­ben feiern in dieser Lesart Hochzeit, gehören wie Verliebte untrennbar zu­sammen. Leben ist… nach Gott suchen.

 

Die Menschen auf dem Gerüst kauern dicht gedrängt, aber ihre Gesichter strahlen. Sie können leben, weil die Stäbe ihnen Halt geben, und zugleich, weil ihre Arme und Augen die Welt der Stäbe überwinden. So trägt die Su­che nach Spuren von Gottes Gegenwart durch Angst und Depressi­on, Ab- und Aufstiege, durch Winterwetter und eine Welt, die sich gibt, als ob es ihn nicht gäbe.

 

"Suchet mich, so werdet ihr leben."

In der Mitte des Verses steuert ein winziges Wort den Sinn: "so".

Zumindest im Deut­schen erlaubt dieses "so" eine Doppeldeutigkeit. Üblicherweise versteht man das "so" wie ein "dann". Also: Wenn ihr mich sucht, dann werdet ihr leben.

 

Aber was, wenn das "…so werdet ihr leben" die Form des ge­meinten Lebens schon beschreibt. Dann antwortet Gott auf die Frage: "Wie sollen wir leben?" mit "Suchet mich". Dann wäre das Suchen selbst schon der Mo­dus des Lebens.

 

Und Finden? Für ein Leben nach Gottes Willen wäre finden letztlich un­erheblich.

 

Es gibt Menschen, es gibt sie wohl in allen Religionen, die halten einen Glauben ohne Finden für unerträglich. Zweifel erleben sie als bedrohlich. Und den, der den Schatz im ande­ren Acker sucht, den halten sie für eine Provokation. Nicht die Frage, sondern die Antwort ist ihr Ziel, mitunter um den Preis, die allerletzten Fragen lieber zu ersticken, als sich ihnen zu stellen.

 

Ich weiß nicht, kann sein, dass sie auch recht haben. Sie werden sagen: Was unter­scheidet deine Suche ohne Finden vom Leben in einer Welt ohne Gott?

 

Ich antworte: "Es ist die Hoffnung. Sie hält für möglich, dass Gott selbst den Suchenden schon längst gefunden hat, ohne dass er‘s ahnt."

So halte ich es mit denen, die das Leben als einstwei­len offene Frage nehmen. Und die mit ihrem Glauben die Stäbe des Gerüsts, die Zweifel und Erfahrungen der Gottesferne ge­nauso abtasten wie den offenen Himmel über sich.

Ihn will ich suchen, den Gott, der Antwortbilder von sich ablehnt. Und der statt­dessen zur Nachfolge ruft, der sich freut an Barmherzigkeit und Recht. Vielleicht ist es ja doch kein Missverständnis.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.