Wort zum Tage
Vergangenheit
27.09.2018 06:20
Sendung zum Nachlesen

Während meiner Kindheit und Jugendzeit war es selbstverständlich, dass man sich von der Sonne die Haut verbrennen ließ. Ich hatte in jedem Sommer mehrere Sonnenbrände. Heute freut sich mein Hautarzt darüber, denn er kann ein Basaliom nach dem anderen entfernen. Ein Basaliom ist ein gutartiger Hautkrebs, der als eine Spätfolge lange vorher erlittener Sonnenbrände auftritt. Er ist gutartig, muss aber trotzdem entfernt werden. Mein Hautarzt sagt: „Sie werden noch lange den Bestand meiner Praxis sichern.“ Heute lege ich mich nicht mehr in die Sonne, um mich verbrennen zu lassen; das alles ist schon lange her. Es ist Vergangenheit. Aber in Gestalt dieser Basaliome hat mich meine Vergangenheit wieder eingeholt. Das gilt nicht nur für Sonnenbrände, sondern für viele andere Lebensbezüge. Die Vergangenheit ist oft nicht wirklich vergangen, sondern ragt hinein ins gegenwärtige Leben. In einem Kriminalroman las ich den Satz: „Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“ Wenn es zum Beispiel Familiengeheimnisse gibt, die man unbedingt mit ins Grab nehmen will, so wirken sie trotzdem in das Zusammenleben mehrerer Generationen hinein. Der Umgang miteinander ist über die Generationen hin gestört, weil es Bereiche gibt, über die man nicht sprechen will. Aber das nützt nichts. Die Atmosphäre bleibt angespannt für Eltern, Kinder und Kindeskinder. In der Bibel heißt es in den Zehn Geboten: „Ich der Herr, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen“ (2. Mose 20,5). Das kann man als ungerechte Grausamkeit gegen die Nachkommen ansehen. In Wirklichkeit ist es nur die mythisch formulierte Erfahrung, dass die Vergangenheit mit uns nicht abgeschlossen hat, sondern über drei oder vier Generationen hin wirksam bleibt. Dasselbe gilt für Völker und Nationen. Die Taten und Untaten der Vergangenheit sind nicht einfach vergangen. Man kann zwar versuchen, sie zu leugnen; dann gleicht man einem Hautpatienten, der der Hautoperationen überdrüssig ist und die Basaliome lieber wuchern lässt. Es gibt nur einen Weg, sie loszuwerden: Man offenbart sich dem Hautarzt und lässt ihn machen, was unumgänglich ist. So ähnlich ist es mit allen scheinbar vergangenen Problemen: Man offenbart sich den Betroffenen, seien es Familienangehörige, seien es Minderheiten oder Völkerschaften, man steht zu dem, was man getan hat und bittet um Vergebung und Versöhnung. Erst dann hat die Vergangenheit eine Chance, zur Ruhe zu kommen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.