Mitten im Leben

Gottesdienst
Mitten im Leben
Gottesdienst aus St. Matthäus München
25.12.2016 - 10:05
Über die Sendung

Weihnachten kommt mitten aus dem Leben: Ein Kind wird geboren. Und es trifft uns mitten im Leben: In dem Kind kommt Gottes Liebe zu den Menschen. Die Weihnachtsgeschichte will eine Geschichte sein, die zu unserer Geschichte wird. Kein abstraktes Geschehen weit weg in einem fremden Land, sondern heute und hier wird das Kind geboren. Grund zur Freude, Grund genug, ein Gloria zu singen.

 

Der Münchner Motettenchor unter der Leitung von Benedikt Haag singt Antonio Vivaldis Gloria in D (RV 589). Es musiziert das Barockorchester Concerto München. Solistinnen sind Katja Stuber und Anna Karmasin.

 

Die Predigt hält der bayerische Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzende Dr. Heinrich Bedford-Strohm, die Liturgie wird gestaltet von Pfarrer Dr. Norbert Roth.

Predigt nachlesen

Liebe Gemeinde,

 

Weihnachten trifft mitten ins Leben. Und Weihnachten kommt mitten aus dem Leben. Vier Wochen lang bereiten wir uns vor und es hat ja schon etwas Romantisches und Herzerwärmendes, wenn es in den Adventstagen früh dunkel wird, wenn wir dann überall die Lichter sehen, wenn Menschen auf den Weihnachtsmärkten zusammenkommen, im Hintergrund Weihnachtsmusik. Am Heilig Abend dann der geschmückte Baum, die Geschenke, der Glanz in den Augen.

Man könnte schon auf den Gedanken kommen, dass wir das alles nur deswegen so schön finden, weil es uns den Alltag für ein paar Stunden vergessen lässt. Ich glaube es ist mehr. Ich bin überzeugt davon, dass die meisten Menschen durchaus eine Ahnung von dem haben, was all den Lichtern, der Musik und der Gemeinschaft, die wir miteinander haben, seinen tiefen Sinn gibt.

Es ist ein Geschehnis mitten aus dem Leben. Die Geburt eines verletzlichen kleinen Kindes, an einem Ort, an dem man nie eine Geburt vermuten würde, eine Höhle oder ein Stall. Der Heiland, der Retter der Welt, ganz winzig und weich, die Eltern und Hirten: froh, erleichtert, betört. Weihnachten kommt mitten aus dem Leben, dem verletzlichen Leben, dem bedrohten Leben und dem glücklichen Leben.

Deswegen ist es gut, dass Sie heute alle da sind, Sie hier in der Münchner Matthäuskirche und Sie zu Hause. Diejenigen, die gestern eine wunderbare Bescherung hatten und eine fröhliche und entspannte Zeit im Kreise ihrer Lieben. Und diejenigen, die es schwer hatten gestern Abend, weil die hohen Erwartungen an diesen Festabend nicht erfüllt wurden, weil es Streit gegeben hat, oder weil niemand da war, der die Einsamkeit durchbrochen hat. Es ist gut, dass die da sind, denen schon das Wort „Weihnachten“ ein Gefühl ins Herz und in die Seele bringt, dass sie froh werden. Und dass auch die da sind, die vergeblich auf ein solches Gefühl warten, die das gerne spüren würden, es aber nicht herbeizwingen können.

Schön, dass Sie alle da sind, mit all den so unterschiedlichen Gefühlen und so unterschiedlichen Geschichten, die Sie mitbringen! Und da mitten hinein in unser Leben kommt nun die Botschaft des Propheten Jesaja – und sie kommt auch mitten aus dem Leben:

 

Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

 

Das sind Worte, die treffen es genau an diesem Weihachten des Jahres 2016. Wir sehnen uns nach Freudenboten. Nach freudigen Nachrichten. Denn die Welt scheint nur noch voll von Hiobsbotschaften zu sein. Immer wieder die schrecklichen Bilder aus Aleppo, immer wieder Bomben, immer wieder Zerstörung, immer wieder Tote. Islamistische Fanatiker, die Worte wie „Menschenwürde“ oder „Mitgefühl“ nicht kennen. Rechtsradikale Ideologen, die – genau wie die Islamisten – eine menschliche Kälte ausstrahlen, die einen frösteln lässt. Aber auch Meldungen, dass in unserem reichen Land so viele Kinder in Armut leben. Meldungen darüber, dass die Rente von Menschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen im Alter nicht reichen wird und dass sie Sozialhilfe brauchen werden. Und dazu Berichte über Lügengeschichten, die über das Internet verbreitet werden und die für viele Menschen nicht mehr von echten Fakten zu unterscheiden sind. Eine gesellschaftliche Situation, in der Nervosität und Gereiztheit herrschen und in der die Grundmaßstäbe des menschlichen Umgangs miteinander ins Wanken zu geraten scheinen.

Die Worte des Jesaja klingen so anders als all die Schreckensnachrichten. Sie treffen mitten ins Herz, sie sprechen mitten hinein in die Verkrampfung der Seele, die sich einstellen will, wenn so viele andere Worte die Freudenworte übertönen:

„Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“

Darf ich diese Worte an mich heranlassen? Darf ich sie in meine Seele hereinlassen? Oder sind sie zu schön um wahr zu sein? Sind sie nur Rauch aus den weihnachtlichen Räucherstäbchen, der uns benebeln will und den wir begierig aufnehmen, weil wir die Realität nicht aushalten?

Es gibt keine objektive Wirklichkeit. Die Wirklichkeit kann man immer unterschiedlich sehen. Die Frage ist, welche Geschichten mein Leben bestimmen sollen. Wir müssen uns entscheiden: Auf was höre ich? Auf wen höre ich? Lasse ich die freudigen Boten in mein Herz? Öffne ich meine Seele der frohen Botschaft? Oder lasse ich mich übermannen von all den Unkenrufen und den Ohrenbläsern, wie Luther diese „Einflüsterer“ nennt, die wir alle kennen?

Der Liedermacher Gerhard Schöne hat ein tolles Lied geschrieben, in dem es genau darum geht:

„War ein Bäuerlein, hatte nur ein Pferd,“

so beginnt das Lied,

„lief das Pferd davon und ist nicht heimgekehrt.

Kamen alle Nachbarn an,

klagten laut, du armer Mann, 

so ein Unglück, so ein Unglück, so ein Unglück nein.

Doch das Bäuerlein sprach leis:

Obs ein Unglück ist, wer weiß.

Morgen bin ich schlauer.“

 

Am nächsten Tag kommt das Pferd zurück und hat im Schlepptau ein Wildpferd! Da freuen sich alle aus dem Dorf über den Gewinn, doch der Bauer bleibt auch jetzt zurückhaltend: Obs ein Glück ist, nun wer weiß. Morgen bin ich schlauer.

Der Sohn reitet das Wildpferd zu, wird abgeschmissen und bricht sich das Bein – so ein Unglück! Der Bauer bleibt gelassen: Morgen bin ich schlauer! Als der Krieg kommt, wird der Sohn nicht eingezogen wegen des gebrochenen Beins – welch ein Glück, rufen alle um ihn herum! „Ob’s ein Glück ist, nun wer weiß. Morgen bin ich schlauer“

„Morgen bin ich schlauer.“ Das ist ein sehr weiser Satz. Ein Satz getränkt von Lebenserfahrung.

Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Und die Versuchung ist groß, es irgendwie in Erfahrung bringen zu wollen. Gerade jetzt, wo es auf den Jahreswechsel zugeht, gibt es dazu auch wieder viele Angebote. Aber diejenigen, die Horoskope und Wahrsagereien feilbieten, täuschen die Menschen. Wir können nichts über die Zukunft wissen. Aber: vertrauen, liebe Gemeinde, das können wir! Weil wir aus Vertrauensgeschichten leben. Weil die Hoffnungsgeschichten zum Teil unserer eigenen Geschichte werden. So wie bei den Menschen zur Zeit Jesajas.

Die Botschaft des Jesaja ist deswegen eine so wunderschöne Botschaft, weil sie eine zutiefst heilende Botschaft ist. Sie hat schon damals, als sie entstand, Menschen wieder aufgerichtet, die keine Zukunft mehr gesehen haben. Das Volk Israel lag am Boden. Vertrieben aus dem eigenen Land. Gefangen im Exil in Babel. Ohne Perspektive. Scheinbar verlassen von dem Gott, der weit weg in Jerusalem im Tempel wohnte. Wohin sollte dieser Weg noch führen?!

Mitten hinein in dieses zertrümmerte Leben erklingt die Stimme Jesajas: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“ Es ist eigentlich eine unglaubliche Geschichte: ihr sollt eure Augen aufmachen, sagt er. Ihr sollt auf das sehen, was kommen wird. Ihr sollt eure Ohren spitzen und auf das hören, was euer Leben reich macht. Gott wird euch trösten. Ihr sollt singen und euch freuen. Ihr sollt Gloria singen auf den Trümmern, denn sie bedeuten nicht das Ende der Geschichte.

Das ist die weihnachtliche Botschaft, liebe Gemeinde: Deine Zukunft ist kein dunkles Loch. Dein Gott hat dich nicht verlassen. Er ist da! Dein Gott ist König! Die Worte des Propheten haben dem Volk Israel die Zukunft geöffnet. Es ist heimgekehrt aus dem Exil. Was das Ende zu sein schien, hat zum Neuanfang geführt. So wird es vom Volk Israel berichtet. Und was das biblische Gottesvolk erfahren hat, ist zu der Geschichte geworden, aus der auch wir leben!

Wir nennen es die „jüdisch-christliche Tradition“. Was so nüchtern klingt, ist in Wirklichkeit die große Quelle des Lebens für uns alle: Wir müssen sie nur neu entdecken! Einfach in der Bibel lesen, die alten Geschichten, die so viel mit uns zu tun haben, mit meinem und mit Deinem Leben. „Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.“ So heißt es am Ende der Verheißung des Propheten Jesaja. Und wir antworten heute, am Weihnachtstag des Jahres 2016: Ja, wir haben das Heil unseres Gottes gesehen! Wir haben es gesehen in einem kleinen Kind in all seiner Verletzlichkeit. Wir haben das Heil gesehen in dem Menschen, in dem Gott einer von uns geworden ist und uns nie mehr allein lässt. Wir haben das Heil gesehen in ihm, der sogar den Tod, das äußerste Dunkel, selbst erfahren hat und wieder auferstanden ist ins Licht und uns alle dorthin mitnimmt. Wir haben das Heil erfahren, denn die Dunkelheit ist besiegt. Nichts kann uns mehr trennen von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist unserem Herrn!

Aus welchen Geschichten, liebe Gemeinde, wollen wir leben? Aus den Geschichten, die von einer Welt reden, die in ein dunkles Loch verschwindet? Oder aus den Geschichten, die von Gottes Liebe erzählen? Von der Liebe, die Mensch geworden ist, die unserem Leben ein Ziel gibt, die unser Herz mit Hoffnung erfüllt. Von der Hoffnung, die uns bewegt hin zu den Liebsten, den Nachbarn, den nahen und fernen Mitmenschen, so dass wir die Liebe, die wir erfahren, nun selbst ausstrahlen.

Es ist eine Entscheidung, jeden Tag neu, aus welchen Geschichten wir leben wollen. Wir alle sind heute hier, weil wir diese faszinierende Weihnachtsgeschichte wieder hören und die Worte in die Seele aufnehmen wollen, die die Zukunft für uns alle miteinander öffnen. Wir alle sind hier, weil wir eine Sehnsucht haben nach diesen Freudenboten. Weil wir alle nicht genug bekommen können von der Botschaft des Lebens, die sie verkünden. Weil sie mein Leben in einen größeren Horizont stellt. „Ob’s ein Glück ist? Ob’s ein Unglück ist?“ Da gibt es eine größere Geschichte, die mich trägt. Von der ich ein Teil bin. Weil ich auf sie vertraue. Weil ich weiß, dass die Unkenrufe und Hiobsbotschaften nicht das letzte Wort haben. Weil wir alle spüren, dass schon jetzt etwas Neues angebrochen ist.

Lasst uns daraus leben! Und lasst uns davon erzählen! Denn das heißt ja Evangelium, frohe Botschaft: Hören, in die Seele einlassen und dann weitersagen und weiter-singen.

Wir werden uns die Geschichte von Weihnachten immer wieder erzählen. Und wir werden singen, diesen großen Heils-Gesang, heute hier im Gottesdienst, vielleicht auch noch auf dem Nachhauseweg und dann immer wieder: Welt ging verloren, Christ ist geboren. Freue dich o Christenheit! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN