Stolperstein und Blumenmeer

Feiertag
Stolperstein und Blumenmeer
Über den Wert der Erinnerung
24.01.2016 - 07:05
11.01.2016
Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit

Ein Stein ragt aus dem grünen Hügel. Ein Findling – darauf in verwitterten Buchstaben ein Bibelvers, Worte aus dem 1. Brief des Paulus an die Korinther: Die Liebe höret nimmer auf. Der Findling steht in einem kleinen Wäldchen in verwunschener Landschaft. Hier war einmal Ostpreußen. Heute gehört dieses Stück Land zu Polen.

Das Wäldchen birgt eine Familiengrabstätte. Ein kleiner schmaler Feldweg führt von dort zu der Stelle, wo einmal ein Gutshaus stand. Meine Großeltern haben hier gelebt. Ich bin ihnen nie begegnet. Mein Großvater liegt hier begraben: eine kleine Anhöhe mit rauschenden Bäumen. Drei schmiedeeiserne Kreuze stehen unterhalb des Findlings. Die Gräber blieben zurück, als die Familie vor mehr als siebzig Jahren auf die Flucht ging. Auf die Wagen des Trecks passte nicht mehr als ein Koffer. Das Gut blieb zurück. Die Scheunen und Felder, die Wälder und Seen. Und als meine Großmutter in Hannover bei Verwandten Unterkunft fand, da hatte sie nicht nur ihre Heimat verloren, sondern auch die Gräber ihres Ehemannes, eines Kindes und Enkelkindes.

Wie ein Gruß aus der Ferne hallt der Spruch auf dem Findling in mir nach: Die Liebe höret nimmer auf.

 

Die Heimat meiner Großeltern gibt es nicht mehr. Dort, wo einst das Gutshaus stand, ragen heute Steine und kaputte Ziegel aus dem Gras. Die Scheunen sind verfallen. Die Landschaft ist geblieben. Und das kleine Wäldchen mit den Gräbern. Als Verwandte im vergangenen Sommer dort waren, hat sie eine polnische Familie zu dem kleinen Feldweg geführt. Er war frei von Unkraut – genau wie die drei Kreuze und der Findling.

Es liegt ein Stein in einem polnischen Wäldchen – achtzig Kilometer vom russischen Kaliningrad entfernt, das damals noch Königsberg hieß. Ein Findling, an dem sich die Erinnerung an einen Teil meiner Familiengeschichte fest machen kann. Eine Erinnerung, die sich sonst nur aus Fotoalben mit winzigen schwarz-weiß Fotografien mit gezacktem Rand und aus den seltenen Erzählungen meines Vaters speist. Auf meinem Schreibtisch steht ein Foto meiner Großmutter vom Tag ihrer Silberhochzeit. Sie ist darauf ungefähr so alt wie ich heute und lächelt mir zu. Ich erkenne mich in ihrem Gesicht wieder.

Ich stelle mir vor, wie sie von der Terrasse des Hauses zwischen allen Kindern und Enkeln immer wieder auch zu diesem nahen Wäldchen geblickt hat. Ich bin froh, dass der Stein dort liegt. Unverrückbar. Ein persönlicher Erinnerungsort – verbunden mit einem Bibelwort, das von der Hoffnung erzählt, dass unser Leben – egal wo wir sind – bei Gott aufgehoben ist.

 

Gräber sind Orte der Erinnerung. Auf dem Land und in den Dörfern liegen sie nah vor der Tür und werden regelmäßig besucht. In den Großstädten bleiben Gräber dagegen nicht selten verwaist. Oft ist keiner da, der kommen kann oder will. Viele Angehörige meiden Friedhöfe. Immer mehr Menschen wünschen eine anonyme Bestattung – ohne Grabstein, ohne Namen, ohne konkreten Ort.

 Die persönlichen Spuren der Erinnerung verwischen. Es gibt wenig, wo man sich und seine Lebensgeschichte noch fest machen kann. Menschen kommen und gehen. Ziehen um und ziehen wieder weg. Die Stadt wandelt ständig ihr Gesicht und vergisst schnell. Marion Gardei war viele Jahre Gemeindepfarrerin in Berlin. Jetzt hat sie das Thema Erinnerung in besonderer Weise zu ihrem Beruf gemacht. Sie ist Beauftragte für kirchliche Erinnerungskultur in Berlin und Brandenburg und setzt sich dafür ein, dass Menschen mit ihrer ganz persönlichen Geschichte nicht vergessen werden:

 

Gardei: Die Namen zu erinnern, find` ich sehr wichtig. Der Name gibt dem Menschen seine Identität und Würde. Ich denke immer: Man muss mit seinen Angehörigen unbedingt darüber reden, was man sich vorstellt. Und viele tun das vielleicht auch, weil sie den Angehörigen nicht die Grabpflege aufbürden möchten. Ich glaube, dass es seine tiefe Würde hat, dass der Mensch auch einen letzten Ort hat, wo seiner gedacht wird mit Namen.

 

Erinnerung braucht Gesichter. Erinnerung braucht einen Namen. Dieser Gedanke taucht in der Bibel immer wieder auf. Er begründet die Beziehung zwischen Gott und Mensch. So heißt es im Buch des Propheten Jesaja:

 

Nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen: du bist mein! (Jesaja 43, 1)

 

Erinnerung braucht Namen. Auch die kollektive Erinnerung. So durchbrechen inzwischen unzählige sogenannte Stolpersteine das Pflaster deutscher Städte. Initiator ist der Künstler Gunter Demnig. Auf goldenem Messing springen die Namen jüdischer Nachbarn im Vorübergehen in unser Auge. Namen, die lange Zeit aus der deutschen Erinnerung verdrängt wurden. Nachbarn beginnen zu recherchieren, wer das war, der da hinter der nachbarlichen Haustür gelebt hat und eines Tages abgeholt wurde und nie wiederkam. So bekommt der Name nach und nach wieder ein Gesicht. Erinnerung wird lebendig. Ein Name, Geburts- und Todesdatum. Ein Ort: Theresienstadt, Auschwitz, Sachsenhausen.

Die Aktion Stolperstein zeigt, dass Erinnerung immer auch Beziehung voraussetzt: die Bereitschaft, sich auf andere Menschen und ihr Schicksal einzulassen.

Das gilt nicht nur für die deutsche Geschichte, sondern auch für unsere ganz persönliche: Ich erinnere mich an Menschen, denen ich begegnet bin, an Orte, die in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Ich verorte mich dabei in Zeit und Raum wie auf einer Landkarte.

Auch in der Bibel werden Steine errichtet als Zeichen und Gedächtnisstütze. Steine werden zu Orten der Erinnerung. Nachfolgende Generationen sollen innehalten, nicht achtlos weiterlaufen. Sie sollen hinhören, was dieser Stein zu erzählen hat. Vergangenheit soll wieder lebendig werden. Das Buch Genesis erzählt die Geschichte von einem solchen Stein. Eine Geschichte von einem wunderbaren Erinnerungsort:

 

Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.

Und ihn träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben…

Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.

Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht!

Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.

Und Jakob stand früh am morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goß Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel…

(Genesis 28, 10-19a)

 

Jakob ist auf der Flucht. Er hat seinen Bruder Esau betrogen um Erbe und Segen des Vaters. Er muss untertauchen. Er ist allein. Er hat Angst. Da öffnet sich im Traum der Himmel über ihm und mit ihm eröffnen sich neue Perspektiven. Jakob nimmt den Stein, auf dem er geschlafen hat und richtet ihn auf zu einem Mahnmal. Der Stein erzählt von nun an eine Geschichte: Hier an dieser Stelle hat sich der Himmel geöffnet. Und ich: Jakob habe es gesehen. Bis heute wird Jakobs Geschichte weitererzählt. Bis heute ist sein Name verbunden mit dem Traum von der Himmelsleiter.

 

Gardei: Das hat ewigen Bestand. Ewig ist auch hier relativ. Dieser Mensch, solange er in der Erinnerung lebt, ist noch irgendwie da, ist noch irgendwie in unserem Leben. Und wenn man den Namen liest und sich fragt, wer könnte das gewesen sein, beginnt schon diese Erinnerung.

 

Als Pfarrerin für Erinnerungskultur kümmert sich Marion Gardei um kirchliche Gedenkstätten, vor allem in Berlin.

Erinnerung braucht Orte – und wir brauchen Erinnerung: An Menschen, die für uns persönlich wichtig waren – und an Menschen, die unsere Geschichte in besonderer Weise geprägt haben. Der Berliner Pfarrer Martin Niemöller war so ein Mensch. In der Gemeinde, in der er während des Dritten Reiches Pfarrer war, arbeitete lange Zeit auch Marion Gardei:

 

Gardei: Ein Erinnerungsort ist ein authentischer Ort, an dem sich Geschichte zugetragen hat, und man n an ihm etwas lernen. Hier wird Geschichte begreifbar. Anders als beim Lernen aus den Schulbüchern erzählen Orte ihre Geschichte, haben ihr Geheimnis. Und wenn man dann Menschen dabei hat, die das auch übersetzen können...für die junge Generation, dann ist das noch schöner, denn wir lernen ja für die Gegenwart. Wir lernen nicht rückwärts bezogen, das ist kein historisch Lernen, sondern wir fragen immer: Was hat das mit dir zu bedeuten? Wo gibt es vielleicht in deinem Leben, in deiner Geschichte etwas, was du davon lernen kannst?

 

Erinnerung braucht Orte – und wir brauchen Erinnerung: An Menschen, die für uns persönlich wichtig waren – und an Menschen, die unsere Geschichte in besonderer Weise geprägt haben. Der Berliner Pfarrer Martin Niemöller war so ein Mensch. In der Gemeinde, in der er während des Dritten Reiches Pfarrer war, arbeitete lange Zeit auch Marion Gardei:

 

Gardei: Als wir diesen Erinnerungsort Martin Niemöller eingerichtet haben in seinem ehemaligen Arbeitszimmer, da haben wir das genau überlegt: Sollen wir irgendwelche alten Möbel aufstellen? Wir haben uns dagegen entschieden. Wir haben eine Künstlergruppe beauftragt und die hat im wahrsten Sinne des Wortes einen „Leer-Raum“ kreiert mit Doppel E: Da gibt es kein altes Mobiliar…wir haben gerade mal das alte Telefon, das ist noch da, was früher abgehört wurde. Aber eigentlich ist es ganz leer und soll vielmehr symbolisieren: Die meiste Zeit, die Pfarrer Niemöller in der Gemeinde tätig war, war er eigentlich inhaftiert und gar nicht vor Ort. Und er war trotzdem präsent. Er war ganz nah bei seiner Gemeinde. Man hat an ihn gedacht. Man hat für ihn gebetet, und man hat auch versucht, mit ihm zu korrespondieren im Konzentrationslager soweit das ging.

 

Heute kümmert sich Marion Gardei zusammen mit vielen Ehrenamtlichen darum, dass vor allem junge Menschen Geschichte in Berlin und Brandenburg hautnah erfahren können. An den Erinnerungsorten erfahren sie. Auch Helden des Widerstands waren Menschen – wie wir.

 

Gardei: Das waren Menschen, die haben sich ganz oft geirrt, und die haben auch ihre Meinung korrigiert, und die sind nicht als Helden geboren. Und die hatten auch Angst und haben versagt. Aber genau darin sind sie uns menschlich und erschlagen uns nicht als heldisches Beispiel und zeigen uns: Man wächst manchmal in so eine Rolle hinein, und keiner kann ja von sich sagen, wie er in Zeiten der Not stand hält oder ob er den Mut hat.

 

Jugendliche haben besondere Erinnerungsorte. Jeder Auftritt bei Facebook ist eine Art virtueller Erinnerungsort. Fotos und Videos sind dort hinterlegt, Botschaften und Kommentare. Doch es gibt auch ganz reale Erinnerungsorte. Orte, an denen Erwachsene oft acht- und ahnungslos vorbeigehen, weiß Pfarrer Tobias Kuske. Als Kreisjugendpfarrer engagiert er sich in der kirchlichen Erinnerungsarbeit besonders für junge Menschen:

 

Kuske: Ein Erinnerungsort, der mich sehr bestürzt, ist tatsächlich der Alexanderplatz, der weit weg davon ist, ein klassischer Erinnerungsort zu sein, aber für Jugendliche ist das ja schon auch ein bedeutsamer Ort durch die vielen schrecklichen Dinge, die dort passiert sind. An die immer mal wieder auch erinnert wird: in kleinen Ecken stehen Kerzen rum, liegen Fotos, alte Blumen. Man traut sich das vielleicht auch nicht so, dass mal zu einer zentralen Geschichte zu machen. Weil es ja auch der Platz ist, wo viel passiert, wo viel Leben ist, und wenn der mit so Schwierigkeiten dauerhaft verbunden wär, ist das ja auch etwas, was Angst macht.

 

Manche Orte werden nur für kurze Zeit aus aktuellem Anlass zu Erinnerungsorten: Der Platz vor der Französischen Botschaft in Berlin zum Beispiel. Er verwandelte sich in den Tagen nach den Terroranschlägen von Paris in ein Blumen- und Lichtermeer. Menschen gedachten dort der Opfer, auch wenn sie sie persönlich nicht kannten. In der globalen Welt rücken alle Ereignisse näher, wächst die erschreckende Erkenntnis: Was meinem fernen Nächsten widerfährt, das kann auch mir und hier passieren.

Erinnerungsorte laden zum Innehalten ein. Sie strahlen Ruhe aus inmitten von Unruhe und Chaos. Erinnerungsorte sind Haltepunkte, Fixpunkte in unserem Leben, das vergänglich und gefährdet ist, das rast und vergeht. Von Erinnerungsorten geht eine besondere Kraft aus. Sie binden uns ein in Geschichte und Zukunft. Sie machen uns bewusst, dass wir nicht alleine sind auf dieser Welt, sondern immer verbunden mit denen, die vor uns waren und die nach uns kommen werden. Erinnerung will mit anderen geteilt werden. Tobias Kuske führt als Pfarrer junge Menschen an besondere Orte der Erinnerung in und rund um Berlin: Ob Stasigefängnis oder Berliner Olympiastadion – was macht aus ganz normalen Orten eigentlich Erinnerungsorte?

 

Kuske: Ich würde ganz einfach antworten: Indem Menschen dorthin gehen und sich erinnern. Mehr als einer. Wenn Menschen über diese Erinnerung vielleicht auch miteinander noch ins Gespräch kommen, vielleicht auch für ihr eigenes Leben, für ihre Zukunft etwas daraus entwickeln können.

 

Es kann schmerzlich sein sich zu erinnern. Wer Gräber besucht, gibt der Erinnerung Raum: der dankbaren und der schmerzlichen. Er durchlebt noch einmal Momente der Trauer, aber auch der Freude. So sind Friedhöfe nicht bloß Orte des Todes, sondern des Lebens. Und geschichtliche Erinnerungsorte sollten ebenso mit beidem verbunden sein, meint Tobias Kuske. Weil Erinnerung nicht rückwärts gewandt ist, sondern mit Gegenwart und Zukunft zu tun hat. Tobias Kuske begleitet Schülergruppen in das Berliner Olympiastadion. Hier ließ Hitler 1936 die Olympischen Spiele ausrichten. Tobias Kuske scheucht heute die Schüler im Wettlauf gegeneinander die unzähligen Treppenstufen hoch hinauf bis zu dem Platz, wo damals das olympische Feuer entzündet wurde. Die anderen sollen anfeuern. Was träge und als harmloses Spiel beginnt, entwickelt sich unter den frenetischen Anfeuerungsrufen der anderen schnell zu einem erbitterten Wettstreit. Wie man sich von der Masse plötzlich antreiben und anstecken lässt, wird hier hautnah erfahrbar. Aber auch eine andere überraschende Erkenntnis verbindet sich mit diesem besonderen Ort:

 

Kuske: Geheilt haben mich die Italiener, weil ein Erinnerungsort für die jugendlichen Italiener ist tatsächlich das Olympiastadion. Und zwar nicht wegen der schrecklichen Dinge, die da stattgefunden haben und wegen der Olympischen Spiele und wegen der Naziaufmärsche, sondern weil sie 2006 dort den WM Pokal gewonnen haben. Sie kommen hin, hissen ihre Fahne, schreien, sind fröhlich, machen Selfies und gehen wieder. Vielleicht müsste es auch Orte der positiven Erinnerung mehr geben!

 

Das Erinnerung nicht in erster Linie beschweren, sondern vor allem stark machen will für das eigene Leben und unsere Zukunft, glaubt auch Marion Gardei, Pfarrerin für kirchliche Erinnerungskultur aus Berlin:

 

Gardei: Eigentlich wollen alle Gedenkorte Mut machen, in der Gegenwart widerständig leben zu lernen. Und es soll gar nicht die Düsternis überwiegen. Wenn ich lerne, was mutige Frauen in der Zeit der Bekennenden Kirche gemacht haben, wenn ich sehe, wie Menschen in der DDR damals kleine Dinge taten, die aber doch zusammen ganz viel ausgelöst haben, dann macht mir das doch Mut für mein Leben und ist nichts, was mich runterzieht, sondern was mich vielleicht stark macht!

 

Erinnerungsorte ziehen sich durch unser Leben. Je älter ich werde, desto mehr nehme ich mir Zeit und suche Orte auf, die aus meinem Leben nicht wegzudenken sind. Sie machen es reicher und unverwechselbar.

Für Außenstehende ist es eine grüne Wiese – so wie tausend andere auch. Für mich ist es der Ort, an dem meine Tochter laufen lernte. An einem Sommertag vor 15 Jahren. In einem blau-weiß gestreiften Matrosenanzug. Sie saß auf der Decke, zog sich in einem unbeobachteten Moment am Kinderwagen hoch und machte sich auf den Weg. Selbstbewusst und neugierig. Ein blau-weiß gestreifter Punkt am Ende einer grünen Wiese.

Ein Findling in einem kleinen Wäldchen in Polen – nahe der russischen Grenze. Es markiert den Ort, an dem mein Großvater beerdigt wurde. Steine liegen dort. Reste einer Ruine. Mein Großelternhaus. Der Ort, wo mein Vater Kind war. Ein Stück Heimat auch von mir. In meiner Erinnerung bin ich manchmal dort. Sehe die Großeltern am Tag ihrer Silberhochzeit – die Braut sieht aus wie ich.

Ich sehe den Vers auf dem Findling: Die Liebe höret nimmer auf! Durch Zeiten nicht, durch Generationen nicht. Daran erinnert mich dieser Stein. Wie der Stein, den damals Jakob errichtet haben soll – irgendwo in der Wüste allein unter Gottes weitem Himmel. Zeichen, das dieser Himmel für einen Moment offen stand und Jakob und Gott einander ganz nahe waren. So schön, so überwältigend muss das für Jakob gewesen sein, dass er den Stein am Morgen danach ganz alleine schleppte und aufrichtete, damit andere, damit auch wir über diese Liebe Gottes in unserem Leben eines Tages stolpern können und uns daran fest machen und von ihr weiter erzählen – ein Leben lang.

11.01.2016
Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit