Pfingstgottesdienst vom Hesselberg

Gottesdienst
Pfingstgottesdienst vom Hesselberg
25.05.2015 - 10:05
25.05.2015
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Gemeinde hier auf dem Hesselberg und zu Hause,

 

Es gehört zu den schönsten Erfahrungen, die ich kenne, ein Baby auf dem Arm zu halten. Bei meinen eigenen Söhnen habe ich das so erlebt, aber auch bei den Kindern von Freunden. Zu sehen, wie verletzlich dieses kleine Menschlein ist – und die eigene Verletzlichkeit darin zu spüren. Zu sehen, wie bedürftig es ist – und darin etwas von der eigenen Bedürftigkeit zu spüren. Zeuge zu werden, wie das Baby Hunger hat und schreit. Und zu sehen, wie beim Trinken die Züge sich dann immer mehr entspannen und sich eine tiefe Befriedigung ausbreitet. Es gibt kaum etwas Entspannteres, etwas Friedlicheres als das Gesicht eines Babys nach dem Trinken.

 

„Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein. Eigentlich müsste ich jetzt zu Ihnen allen sagen: liebe Kindlein. Denn so spricht Petrus uns in seinem ersten B rief an. Wir werden zurückversetzt in eine Zeit, in der wir ganz auf unsere Mutter angewiesen waren oder – im Zeitalter der Fläschchenmilch kann man vielleicht auch sagen: auf den Vater. Wir konnten selbst nichts tun, um uns zu ernähren, aber wir mussten eben auch nichts selbst tun. Reines Empfangen. Hunger, der gestillt wird. Angst, die sich in Geborgenheit wandelt. Unruhe, die in Frieden mündet.

 

Petrus redet von einer geistlichen Erfahrung. Wenn wir uns öffnen für Gottes Geist, begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, werden wir genährt in unserem Hunger nach Gott. Unsere Sehnsucht nach Nähe und Zugehörigkeit wird gestillt. Wir machen die Erfahrung der Heilung.

 

Vielleicht spüren wir ja schon etwas davon, da wir hier mit so vielen anderen „neugeborenen Kindlein“ jeden Alters auf dem Hesselberg zum Kirchentag zusammengekommen sind. Und vielleicht spüren Sie, die Sie von zu Hause aus dabei sind, auch etwas davon. Vielleicht spüren Sie, wie sehr es verbindet, wenn wir uns alle miteinander als Empfangende sehen. Nicht als die, die alles im Griff haben, die von anderen unabhängig sind, und die Kontrolle behalten. Sondern als Menschen, die angewiesen sind auf andere. Menschen, die sich öffnen für die Erfahrung, dass die Kraft nicht aus uns selbst kommt, sondern dass wir sie empfangen, immer wieder von neuem empfangen von dem, der uns das Leben geschenkt hat. Das ist Pfingsten: die Hände offen halten, die Sinne offen halten, das Herz offen halten und spüren, wie der Geist Gottes in uns wirkt und uns ein großes Gefühl der Verbundenheit gibt, das selbst durch Radio- und Fernsehkanäle hindurch wirkt und aus uns allen eine große Gemeinschaft macht.

 

Diese große Gemeinschaft nennen wir „Kirche“. Kirche, das ist natürlich auch eine Organisation, mit Mitgliedern, mit Gebäuden, mit Mitarbeitern und mit Haushaltsplänen, aus denen sie bezahlt werden. Aber vor allem ist Kirche die eine weltweite Kirche Jesu Christi, die keine nationalen oder kulturellen Grenzen kennt, die uns alle miteinander mit unseren ganz unterschiedlichen Hintergründen verbindet, eine große Gemeinschaft. Und sie lebt vom Empfangen, aus der Kraft des Heiligen Geistes, dessen Ausgießung wir an Pfingsten feiern. Deswegen sagen wir: Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche.

 

Lebt die Kirche wirklich aus dieser Kraft? Oder ist diese Kraft erlahmt? Haben die recht, die angesichts von Kirchenaustritten, zuweilen spärlichem Gottesdienstbesuch und der immer schwierigeren Weitergabe des Glaubenswissens an die jüngere Generation sagen: es geht bergab mit der Kirche?

 

Angesichts mancher Verfallsdiagnosen kann man fast schon den Eindruck gewinnen, bei der Kirche handle es sich um eine allmählich verschwindende Minderheit. Aber das ist Unsinn. Anders als früher ist heute niemand mehr in der Kirche, weil es zum guten Ton gehört oder weil beim Austritt gar soziale Sanktionen zu befürchten sind. Menschen können sich heute frei entscheiden – und das ist auch gut so. Dass rund 50 Millionen Menschen in Deutschland sich dafür entscheiden, in einer der christlichen Kirchen Mitglied zu sein, finde ich wunderbar. Sie sagen damit ein ausdrückliches Ja dazu, dass in den Kirchen überall im Land gesungen und gebetet wird, dass Menschen in schwierigen Lebenslagen seelsorgerlich begleitet werden, dass junge Leute in einer orientierungslosen Zeit etwas mit auf den Lebensweg bekommen, was ihnen Halt gibt, dass junge Paare mit einem Segen in die Ehe gehen dürfen, der auch dann zu tragen verspricht, wenn sie mit ihrem Beziehungslatein am Ende sind, dass Trauernde von der Liebe Gottes hören, von der selbst der Tod nicht trennen kann und von dem Reich, das kein Leid mehr kennt und in dem alle Tränen abgewischt sind.

 

Sie alle sagen Ja zu dem Engagement für die Schwachen, ohne das die Kirche keine Kirche wäre. Sie sagen Ja zu einer Ausrichtung in ihrem Leben, die mehr ist als ein Wettrennen um Geld und Erfolg und die je eigenen privaten Interessen. Sie alle öffnen ihre Sinne dafür, dass die Fülle des Lebens nicht darin liegt, alles unter Kontrolle zu haben, sondern empfangen zu lernen, zu verstehen, dass das Leben ein Geschenk ist.

 

Das ist die Kirche. Das alles macht die Kirche aus. Und es behält seine Bedeutung unabhängig davon, wie hoch die Mitgliederzahlen sind. Die Kirche ist eben nicht einfach eine soziale Organisation. Sie lebt aus etwas, was sie nicht selbst organisieren kann. Lasst uns miteinander ein Lied singen, das der Quelle, aus der wir als Kirche leben, einen Namen gibt:

 

„Die Kirche steht gegründet allein auf Jesus Christ“

 

 

„Zu Christus kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft...“ –das ist das zweite starke Bild im Brief des Petrus. Ihr seid lebendige Steine! Christus ist der Eckstein, aber ihr seid lebendige Steine, um Christus herum gebaut!

 

Als Kirche nehmen wir das Bauen auch sehr wörtlich. An manchen Orten bauen wir neue Häuser, in denen die Gemeinde eine Heimat finden kann. Alte Gebäude werden ökologisch modernisiert – so wie jetzt gerade hier auf dem Hesselberg. Aber in dem Bild von den lebendigen Steinen um den einen Eckstein Jesus Christus steckt vor allem eine große Ermutigung. Und eine starke Orientierung. Denn jeder und jede einzelne sind wichtig. Es sind viele Steine die das Haus formen. Und dass Paulus sie hier „lebendige Steine“ nennt, ist eine entscheidende Präzisierung. Wenn jeder Stein lebendig ist, dann steckt in dem Haus, das daraus gebaut wird, eine ungeheure Vielfalt.

 

Ich bekomme immer ein Gefühl für die Lebendigkeit von Steinen, wenn ich mit meiner Frau wandern gehe. Sie hat Augen für Steine und sie macht mich aufmerksam für die Steine am Weg. Oft faszinierende Steine, denen man ihre Geschichte ganz direkt ansieht. Und manchmal nehmen wir sie mit nach Hause, so wie diesen hier. Es sind helle Flecken und dunkle Flecken darauf zu sehen. So wie in jeder menschlichen Biografie. Und was der Stein jetzt ist, wie der Stein jetzt aussieht, ist das Ergebnis eines langen Wachstumsprozesses. Die vielen ganz unterschiedlichen Facetten dieses Steines sind über viele viele Jahre hinweg entstanden. Bei Menschen sind es nur Jahrzehnte und nicht, wie bei Steinen Jahrtausende oder Jahrmillionen. Aber schaut, wie kostbar die Individualität dieses Steines ist! So wie jedes einzelne Menschenleben mit seiner Geschichte. Aus lauter solchen vielen verschiedenen kostbaren lebendigen Steinen ist die Kirche gebaut. Gott, der große Baumeister baut sie jeden Tag neu um den einen Eckstein Jesus Christus herum. Und in dem Heiligen Geist gewinnen wir die Kraft, selbst mitzubauen, die Kirche neu zu bauen, lebendige Steine zu werden.

 

Ja, lasst uns die Kirche neu bauen! Lasst uns die jungen Leute viel mehr beteiligen! Lasst uns auf ihre Ideen hören und sie zum Mitmachen bewegen! Lasst uns wieder radikaler auf Christus hören! Neu hören, dass die Liebe Christi stärker ist als der Hass und uns das Herz so voll macht, dass sie überfließt zum Nächsten! Uns neu in Bewegung setzen, dass wir die Hungrigen speisen, den Durstigen zu trinken geben, die Kranken besuchen, die Nackten kleiden, den Gefangenen beistehen und die Fremden freundlich aufnehmen! Und verstehen, dass nicht Goldene Ringe glücklich machen, sondern Jesu Goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten.“

 

Wir wollen uns neu von Christus inspirieren lassen, so dass wir selbst zur Inspiration werden! Allen Kleinmut hinter uns lassen und uns selbst etwas zutrauen! Wartet nicht auf Pfarrer oder Bischöfe! Ihr seid die königliche Priesterschaft, das heilige Volk! Ihr strahlt das wunderbare Licht selbst aus. Ihr seid das Licht der Welt!

 

Wenn Ihr in den Chören und mit Trompeten und Posaunen Gott lobt, dann füllt ihr die Herzen der Menschen mit Freude. Wenn ihr Sterbende begleitet, Menschen in Not eure Zeit schenkt, Flüchtlinge würdig empfangt und sie bei ihrem schwierigen Ankommen unterstützt, dann zeigt ihr selbst die Menschlichkeit, die in Eurem Herrn Jesus Christus sichtbar geworden ist. Wenn ihr in Partnerschaftsprojekten mit Tansania, Neu Guinea oder Brasilien Solidarität über die Grenzen von Kontinenten hinweg übt, dann zeigt ihr, wie die Einheit der Kirche zum Zeichen der Einheit der Welt wird. Wenn ihr Euch in Gemeinderäten und Stadträten oder Parlamenten für das Gemeinwohl einsetzt, dann seid ihr Botschafter der Versöhnung Gottes mit der Welt.

 

Ich mache mir keine Sorgen um die Zukunft der Kirche. Wir werden in der Zukunft vielleicht weniger Mitglieder haben. Aber die Kraft des Heiligen Geistes kann niemand brechen. Es mag sein, dass der Eckstein Christus von manchen verworfen wird. Aber er bleibt der Eckstein, von Gott auserwählt und kostbar. Er wird bleiben. Wir dürfen die lebendigen Steine um ihn herum sein. Und wir laden alle ein, mit uns zusammen an einer Kirche zu bauen, die aus der Lebendigkeit ihrer Steine um ihren Eckstein herum lebt und diese Lebendigkeit auch ausstrahlt. Eine Kirche des Lebens, eine Kirche der Freiheit, eine Kirche der Hoffnung, eine Kirche in der Kraft des Geistes.

 

Es ist Pfingsten! Die Kraft ist da!

 

Und der Friede dieses Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

 

 

AMEN

25.05.2015
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm