Hirtin Hannah unterwegs zur Hoffnung

Morgenandacht
Hirtin Hannah unterwegs zur Hoffnung
13.12.2016 - 06:35
11.12.2016
Pfarrerin Annette Bassler

Ausgerechnet in der Einkaufsmall treffe ich sie wieder, zwischen Glitzersternen, Elchen und Rauschgoldengel. Hannah sieht blass aus in ihrem grünen Parka. Aber sie lächelt und fragt, wie es mir geht. Gut, sage ich, und dir? Sie rollt mit den Augen. Ich weiß schon, diese Adventszeit mit dem ganzen Glitzerkram ist für sie eine Zumutung. Wenn sie könnte, würde sie am liebsten auswandern. Weihnachten ist für sie die kitschige Inszenierung einer heilen Welt und der eigenen heilen Familie. Seit ich die Geschichte von Hannah kenne, kann ich sie gut verstehen. Deshalb hat Hannah einen festen Platz in meiner Weihnachtsgeschichte. In der biblischen Weihnachtsgeschichte.

 

Für mich ist sie eine der Hirtinnen. Die hüten des Nachts ihre Herde. Und als sie aufschauen, sehen sie einen Engel und erschrecken zu Tode. Die Hirten der Bibel sind nämlich keine entspannten Öko-viehwirte, die zufrieden über ihre artgerecht gehaltene Herde blicken. Sie sind ständig in Anspannung. Vor allem nachts. Weil alles, was sich bewegt, ein Angriff sein könnte. Auf ihre Tiere und auf ihr Leib und Leben. Und deshalb haben sie Angst, als sich etwas bewegt. Als eine Gestalt vor ihnen steht. Ein guter Engel? Oder ein Racheengel?

 

In der Einkaufsmall erzählt mir Hannah, dass sie ihre Rente beantragen soll. Die Ärzte hätten es ihr empfohlen, nach einem Behandlungsmarathon und einer Kur. Eigentlich will sie das nicht, sie ist ja erst Anfang 50 und liebt ihren Beruf. Aber sie kommt einfach nicht aus ihrer Anspannung raus. Immer wenn sie zur Ruhe kommt, kommen die Alpträume und die Erinnerungen. An die Zeit, als sie noch sehr klein war und ihre Mutter sie verprügelt hat und nicht nur das. Sie weiß, dass das lange her ist. Trotzdem rechnet sie immer mit einem Überfall, wenn jemand ihr näher kommt.

 

Und deshalb gehört sie für mich in die Weihnachtsgeschichte. Ihr Platz ist bei den Hirten auf den Feldern in jener Nacht. Denen nähert sich eine Gestalt, ein Engel. Und sagt: „Fürchtet euch nicht. Nicht jetzt. Und nicht vor mir. Ich bring euch eine gute Nachricht. Ihr seid nicht mehr allein auf der Welt. Gott ist nah. Er ist da für euch. Für euch zuallererst. Deshalb steht auf und macht euch auf die Suche. Ihr werdet Gott finden- ganz klein, als Kind. In einer Krippe.“

 

Natürlich sage ich das so nicht zu Hannah. Sie würde es nicht verstehen, weil sie sich ja Gott vom Leibe hält, so wie sie sich von ihrer Mutter fern hält. Ich sage es eher so:

 

Die Rauschgoldengel und das Lametta hier um uns, das ist nicht noch nicht Weihnachten. Das will nur sagen: da kommt noch was. Etwas Leuchtendes, Wunderschönes und Großes. Und das hat die Kraft, uns zu verändern. Uns die Angst zu nehmen. Niemand wird mehr kuschen vor denen, die Angst machen. Wir werden nicht mehr bewundern, was nur groß und erfolgreich und mächtig ist. Wir werden auf das Kleine achten. Auf Kinder zum Beispiel. Die so verletzlich sind und trotzdem von ganzem Herzen einem Menschen vertrauen. Wir werden die Schwachen und Kranken ehren und sie behüten. Wir werden das Kind, das wir selber mal waren und auf eine Art immer noch sind, in den Arm nehmen, es trösten und lieb haben.

 

Die Hirten auf dem Felde sind losgelaufen, erzählt die Weihnachtsgeschichte. Sie gehen los und finden das Kind in der Krippe mit Maria und Josef. Und dort im Stall spüren sie, wie sie sich verändern. Durch die Liebe und Güte, die von diesen drei Menschen ausgeht. Liebe verändert Menschen, wenn sie das wollen. Danach kehren die Hirten wieder zurück zu ihrer Herde in ihren Alltag. Der wahrscheinlich derselbe geblieben ist. Aber sie haben etwas erlebt. Sie haben Gottes Nähe erlebt. Den Glanz seiner Liebe. Und der wird von nun an in ihr Leben hineinscheinen. Und ihnen eine Ahnung geben davon, dass sie geliebt und wichtig sind.

 

Ob Hannah ihre Krankheit überwinden wird, weiß ich nicht. Aber vielleicht hat es ihr gut getan zu hören, dass ich sie nicht für einen hoffnungslosen Fall halte. Gott gibt keinen Menschen verloren. Und wir Menschen es auch nicht tun.

11.12.2016
Pfarrerin Annette Bassler