Archen der aufgekündigten Solidarität

Archen der aufgekündigten Solidarität
Pastor Gereon Alter
10.01.2015 - 23:35

Lena ist vier Jahre alt. Sie geht noch in den Kindergarten. In "Die Arche". So heißt die Einrichtung. An die Wand gleich neben der Eingangstür haben Eltern eine große bunte Arche gemalt. Ein Schiff, auf dem nicht nur die verschiedensten Tiere, sondern auch und vor allem verschiedene Menschen beieinander hocken: junge und alte, arme und reiche, schwarze und weiße. In der Bibel ist das ein Symbol der Rettung – und das Symbol einer Menschheit, so wie Gott sie sich vorgestellt hat: als Gemeinschaft, in der alle zusammen gehören und der eine auf den anderen Rücksicht nimmt.

 

Nach allem, was mir Lenas Eltern berichten und was auch Lena selbst erzählt, lernt sie in der Arche bereits im zarten Alter von vier Jahren, was Gemeinschaft und Solidarität bedeuten. Das fängt damit an, dass die älteren Kinder den jüngeren helfen, ihre Schuhe anzuziehen. Und es endet damit, dass Lena in diesem Jahr zum ersten Mal an der Sternsingeraktion teilgenommen hat. Wie 900.000 andere Kinder in Deutschland auch, um Geld für Kinder auf den Philippinen zu sammeln.

 

Wie erklärt man diesem Kind – Lena – , dass es da noch ganz andere Archen gibt? Archen der aufgekündigten Solidarität. Archen der Ausbeutung und der Kaltherzigkeit. Schrottreife Frachtschiffe, auf denen skrupellose Schlepper Hunderte von Flüchtlingen zusammengepfercht haben, um sie schließlich führungslos gegen eine Felsküste treiben zu lassen. Wie erklären wir Lena, dass das Meer, über das diese Schiffe zu uns kommen, einmal "mare nostrum"/"unser Meer" genannt worden ist – als Ausdruck der Zusammengehörigkeit all der Menschen, die am Mittelmeer leben? Und wie will man Lena erklären, dass die finanzstärkste Staatengemeinschaft dieser Welt sich nicht in der Lage sieht, endlich eine nachhaltige Hilfe zu organisieren für die, die da immer wieder halbtot an ihre Küsten gespült werden? 170.000 waren es allein im letzten Jahr.

 

Noch hat Lena nicht gefragt. Und noch haben ihre Eltern ihr nicht die schrecklichen Bilder im Fernsehen gezeigt. Aber eines Tages wird ihr aufgehen, wie doppelbödig es ist, von Kindern Solidarität zu erwarten und es gleichzeitig im Großen daran fehlen zu lassen. Irgendwann wird Lena durchschauen, wie schräg es ist, wenn Politiker in ihren Weihnachts- und Neujahrsansprachen zu mehr Gemeinsinn und Engagement aufrufen und gleichzeitig knausern, wenn es darum geht, Gelder für die Flüchtlingshilfe freizugeben. Früher oder später wird Lena sich schütteln, wenn sie erfährt, dass in den Tagen, in denen die Flüchtlinge hilflos auf dem Mittelmeer trieben, Menschen in Deutschland für den Erhalt des christlichen Abendlandes demonstrierten und viele damit eigentlich meinten: Die Flüchtlinge sollen doch besser zuhause bleiben.

 

Wenn Lena irgendwann einmal mit dem guten Gefühl durchs Leben gehen soll, dass das, was sie im Kindergarten gelernt hat, auch in der Welt der Erwachsenen gilt; dass Solidarität nicht bloß etwas für die Kleinsten ist, sondern – wie so oft behauptet – die Kultur des christlichen Abendlandes prägt, dann sind jetzt die ganz Großen gefordert.

 

Liebe Politiker: Habt keine Angst, dass Euch Wähler verloren gehen, wenn ihr mehr Gelder für die Linderung des Flüchtlingselends freigebt. Wir haben die Einbußen der Finanzkrise verkraftet, wir werden es auch verkraften, wenn nun ein Bruchteil des Geldes für Menschen in größter Not hergegeben wird. Und lasst Euch auch von perfiden Terroranschlägen, wie dem in Paris, nicht davon abbringen. Macht Ernst mit den Werten des christlichen Abendlandes: mit Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Solidarität!