Das Wort zum Sonntag: "Sich schämen!"

Das Wort zum Sonntag: "Sich schämen!"
Pfarrer Stefan Claaß
22.02.2014 - 23:45

Wo sollen wir hinschauen? In dieser Woche war es kaum auszuhalten. Wir haben gesehen, wie die Gewalt in Kiew sich erst einschleicht und dann explodiert. Aus unserem eigenen Land haben wir verschwommene Bilder gesehen, die von sexueller Gewalt an Kindern zeugen. Können Sie noch hinschauen? Ist es zu etwas gut, dass wir uns informieren? Dass wir all diese Bilder zu sehen bekommen?

 

In mir kam ein ganz seltsames Gefühl angekrochen. Am liebsten hätte ich die entsprechenden Leute mal besucht und ihnen ins Gesicht gesagt: Schämt euch! Schämt euch, ihr Präsidenten und Scharfschützen und Moltowcocktail-Werfer. Schämt euch, die ihr euch an Kindern aufgeilt. Schämt euch, für eure politischen und sexuellen Interessen andere Menschen derart zu schädigen! So ein Ausruf, so ein Stoßseufzer tut im ersten Moment gut. Luft verschaffen. Die eigene Hilflosigkeit übertönen.

 

Das Wort zum Sonntag, Pfarrer Stefan Claaß
Aber dann habe ich gemerkt: es tut nur im ersten Moment gut.

Sofort danach musste an einen bestimmten Lehrer denen. Seine Stimme habe ich noch im Ohr: Ihr solltet euch schämen... Vielleicht hat er ab und zu Recht gehabt, aber als Schüler habe ich seinen Spruch gehasst. Es wirkte herablassend, arrogant. Das Gefühl von Scham konnte er nicht bei mir erzwingen. Wenn ich mich je geschämt habe, dann weil es aus mir selbst kam. Sobald mich jemand dazu aufgefordert hat: Schäm dich! hat das in mir nur Trotz und Wiederspruch hervorgerufen: Wer bist du, dass du dich so aufspielst? Kehr vor deiner eigenen Tür!

 

Sie bringt also nicht das, was wir erhoffen, die Aufforderung an andere: Schämt euch!

Denn das Besondere beim Schämen ist: ich kann nur mich schämen. Selbst wenn ich mich fremdschäme für jemand anderen, schäme ich mich.

Was passiert beim Schämen? Ich schäme mich, weil ich etwas nicht kann oder etwas Schlimmes getan habe. Ich schäme mich, weil andere etwas sehen, was lieber verborgen bleiben sollte. Weil die anderen mich so sehen, wie ich es nicht will. Die Folge ist dann: ich kann und will den anderen nicht in die Augen schauen. Ich vermeide den Blickkontakt.

 

Ob sich Präsident Janukowitsch oder die Kinderbilder-Betrachter schämen können, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass sie keinen Blickkontakt haben zu den Menschen, die von ihrem Verhalten betroffen sind. Was würde passieren, wenn Präsident Janukowitsch der Witwe eines erschossenen Demonstranten in die Augen sehen müsste? Oder ein Molotowcocktail-Werfer einem schwerverletzen Polizisten?

Was würde passieren, wenn der Bilder-Betrachter einem der fotografierten Kinder leibhaftig in die Augen schauen sollte? 

 

 „Das Auge ist das Licht des Leibes“, sagt Jesus in der Bergpredigt. Das Auge ist unser einziges Sinnesorgan, das nicht nur empfängt, sondern auch sendet. Der Augenkontakt mit meinem Gegenüber kann mich vor Verhalten bewahren, für das ich mich später schämen würde. Solche Erfahrungen werden am Familientisch ebenso gemacht wie in internationalen Verhandlungen.

 

Der politische Appell, der mit Nachdruck durchgesetzt werden sollte, ist klar:  Verhandelt miteinander. Haltet die Scharfschützen zurück. Verbietet den Handel mit Nacktbildern von Kindern. Das sind die Forderungen, die von außen durchgesetzt werden müssen. Darum ist es gut, dass wir auf die Nachrichten schauen und uns informieren.

 

Aber das kann nicht alles sein. Ohne Veränderung von innen bleiben alle Versuche halbherzig. Mit ganzem Herzen vertraue ich darauf, dass Gott Menschen berühren und verändern kann. Ich glaube, dass Gott auch machtbesessene, verblendete und aufgegeilte Augen wieder sehen lassen kann. In die Augen der anderen. Das gilt für alle, für Sie und mich.

 

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!