Niemals vergessen

Niemals vergessen
Pastorin Annette Behnken
10.11.2018 - 23:50
12.01.2018
Annette Behnken

Wort zum Sonntag

Samstag, 10.11.2018, 23:50 Uhr, Das Erste

Annette Behnken, Loccum

 

„Niemals vergessen“

 

Guten Abend!

Wenn ich mich erinnere, ist das wie ein kurzer Film im Kopf. Als ich ein Kind war. Erzählte mir mein Großvater von Russland im Winter, Schnee und gestohlenen Stiefeln. Vom Schuss, der seine Schulter durchbohrt. Davon, dass er auch geschossen hat, hat er nicht gesprochen. Hätt ich damals wahrscheinlich auch gar nicht hören wollen. Ich saß warm und behütet da und lauschte seinen Geschichten als wären sie Märchen.

Noch `n Film meiner Kindheit im Kopf. Mit dem Auto in die DDR fahren, meine Eltern, mein kleiner Bruder und ich. Die grauen Männer an der Grenze. Das Versteck, das sie nicht entdecken, in dem wir die Spiegel-Ausgaben des letzten Jahres rüberschmuggeln. Wie mein Bruder laut jubelt, als wir noch kaum durch sind durch die Grenze und meine Eltern panisch, dass die Grenzbeamten was merken.

Meine Erinnerungen sind ein Teil von mir. Erinnerungen gehören zu unserem Inneren. Und jetzt haben wir diese Woche - voll mit Erinnerungstagen. Vor 100 Jahren Ende des ersten Weltkriegs. Der Mauerfall: 29 Jahre her. Und: die Reichspogromnacht. Vor 80 Jahren. Das alles in einer Woche – so viel kann man eigentlich gar nicht gedenken. Schon gar nicht so viel Schreckliches.

Aber es geht ja auch nicht um Datenmengen oder die Anzahl der Gedenktage. Es geht um was anderes: Um die Frage nämlich, wie wir uns mit dem, was in der Welt passiert, verbinden. Wie sich die Welt mit unserem Inneren verbindet. Und die einfache Antwort lautet: Durch Erinnerungen. Und das wieder heißt: Durch Geschichten, die unsere Vorfahren erzählen, durch unsere Geschichten, die wir weiter erzählen, die im Innern was bewegen.

Ich erinnere mich. Wie ein Film im Kopf: Genau vier Jahre her. Eine Reise nach Polen. Ich hab mich gefragt: will ich da wirklich hin? Will ich das wirklich sehen? Auschwitz? Birkenau? Ja. Wollte ich sehen. Ich konnte nicht genau sagen, warum. Bis heute nicht oder nur teilweise. Warum komme ich immer noch ins Stottern, wenn ich darüber rede?

Seit ich da war, seit ich gesehen habe: es ist wahr - das wusste ich auch vorher, aber es zu sehen, anfassen zu können, zu fühlen, die Steine, die Erde, das Holz - dieser Schock, da zu stehen und zu sehen, wozu wir Menschen fähig sind -  seitdem ist dieser Ort meine Erinnerung, verbunden mit meinem Innern. Und ich weiß anders, als vorher: Es ist wahr. Das ist wirklich passiert. Und kann wieder passieren. Und das ist zur Zeit so deutlich, wie lange nicht mehr. Und manchmal fang ich da an, zu stottern.

Erinnern: in meinem christlichen Verständnis und auch im Verständnis unserer jüdischen Schwesterreligion ist Erinnern mehr, als an etwas zu denken, das vergangen ist. Es geht um jetzt. Und genau deshalb machen wir das. Uns im Innern verbinden mit unserer Geschichte, denn dann verstehen wir sie besser. Und dann verstehen wir uns besser. Und gehen wacher und klarer durch‘s Heute auf‘s Morgen zu. Und treten wach und klar denen entgegen, die sich der Erinnerung verweigern und die Gegenwart mit ihren Parolen verschmutzen.

Das Geheimnis der Erlösung, sagt ein jüdisches Sprichwort, heißt Erinnerung.

Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.

 

12.01.2018
Annette Behnken