Spurensuche
„Kinder, vergesst nicht meine Demut“
25.05.2019 10:00

 

„Der getretene Wurm krümmt sich“

Wenn eine politische Partei oder auch ein einzelner Politiker eine Wahl verloren hat, erlebt man, dass jemand vor das Publikum tritt und ihm verkündet: Wir nehmen die Niederlage demütig an. Das ist eine bittere Verbeugung vor den Wählern, die anders gestimmt haben, als es die Partei oder der Politiker sich gewünscht hatte.  Dass dabei die Demut ins Spiel gebracht wird, klingt nach frommer Hinnahme dessen, was nun leider geschehen ist. Friedrich Nietzsche dekretierte dazu: „Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: Demut.“ Bei diesen politischen Äußerungen hat Nietzsche damit zweifellos Recht. Doch mit Demut haben solche Auftritte wenig zu tun. Sie sind lediglich der Ausdruck von Enttäuschung und der widerstrebenden Anerkennung des Wahlergebnisses. Wer in dieser Situation von Demut spricht, hat ja keine Alternative. Er kann das Ergebnis dadurch nicht verändern. Demütig sein, das kann nur jemand, der die Wahl hat zwischen Demut und Hochmut, Demut und Stolz, Demut und Realismus. Wer diese Wahl nicht hat, ist vielleicht enttäuscht, verletzt, oder er fühlt sich in seiner Würde herabgesetzt. Demütig ist er dadurch nicht. Er hat sogar das Wort Demut beschädigt. Denn er bestätigt die Auffassung vieler, dass Demut gleichzusetzen sei mit Schwäche, Folgsamkeit und Kriecherei. Das alles hat mit Demut nicht das Geringste zu tun.

 

Ein Kniefall

Demut ist der freiwillige Verzicht auf die eigene Größe. Diese Größe schwindet dadurch nicht, sondern sie nimmt sich für diesen einen Fall zurück. In einer anderen Situation kann man die Größe wieder zeigen. Demut ist mithin eine Charaktereigenschaft der Großen und Starken, derer, die sich sicher fühlen in ihrer Haut. Etwas anderes ist ihnen wichtiger als die Demonstration der eigenen Stärke: die Beziehung zu einem oder mehreren Menschen zum Beispiel oder die Antwort auf die Gegebenheiten der Realität. In einem Wettlauf mit dem eigenen kleinen Kind zeigt der Vater nicht, dass er in Wirklichkeit viel schneller laufen kann. Er lässt das Kind gewinnen, um ihm die Freude am Wettlauf nicht zu vergällen. Demut zeigt der Ehepartner, der sich zurücknimmt, damit die Ehe nicht durch Rechthaberei beschädigt wird. Demut zeigte Willy Brandt, als er 1970 vor dem Mahnmal zum Gedenken an den jüdischen Ghetto-Aufstand von 1943 auf die Knie fällt. Es ist ein Zeichen der Betroffenheit; eine Geste, mit der er stellvertretend für sein Land um Vergebung bittet für die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Damit bewies der Friedensnobelpreisträger Demut vor den Opfern, nicht etwa vor den Starken. Indem er diese Demut praktizierte, erwies er sich selbst als Starker, ohne dies jedoch im Sinn gehabt zu haben. Der Demütige vergisst sich selbst und seine Größe für ein anderes, noch Größeres. Hier war es die Bitte um Vergebung. Darin liegt Stärke der Demut.

 

Die Gefahr der Demut

Allerdings steht der Demütige in einer Gefahr. Das wird in er kurzen jüdischen Geschichte deutlich. Ein Rabbi ist eingeschlafen. Seine Schüler stehen um ihn herum und preisen seine Eigenschaften Einer meint, er sei so beschlagen in der Heiligen Schrift. Ein anderer rühmt seine pädagogischen Fähigkeiten. Ein dritter fügt hinzu, er könne so gut Witze erzählen. Da öffnet der Rabbi ein Auge und sagt: „Kinder, vergesst nicht meine Demut!“ Ein schwäbischer Spruch sagt dies noch drastischer. Da sagt ein frommer Mann zu einem anderen: „In der Demut macht mir keiner etwas vor.“ Da schlägt die Demut um in einen Stolz, der nur noch Hochmut oder Anmaßung genannt werden kann. Deshalb sagt Martin Luther: „Wahre Demut vergisst ganz, dass sie demütig ist!“ Und das ist nicht schwach, sondern unglaublich schwer.